Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)
einen langen Brief, eine Anklageschrift, und spricht ihn in allen Punkten schuldig. Mit diesem Brief fährt sie zum Grab ihres Großvaters, liest ihn dort laut vor und vergräbt ihn an Ort und Stelle. Als nach vielen Sitzungen ihre tiefe Wut nachlässt, betrauert sie zunächst ihr eigenes Schicksal und den Tod ihres Vaters. Später, als sie dazu bereit ist, öffnen wir den Blickwinkel und widmen uns in einer transgenerationalen Betrachtung der Verstrickung ihrer Mutter.
Ich erfahre, dass es in Karens Familie bereits vor Generationen schwere Grenzüberschreitungen gegeben hatte. Schon Karens Großmutter war in ihrer Kindheit schwer misshandelt worden und hatte ein gestörtes Verhältnis zu ihrem Körper und Sexualität entwickelt. Sie war das Vorbild für Karens Mutter – eine Frau, die gelernt hatte, sich in ihr Schicksal zu fügen, und die diese devote Haltung ihren Töchtern vorlebte. Karens Großmutter war froh und dankbar, dass ihr Mann sie geheiratet hatte und die Familie finanziell so gut versorgte. Nie hätte sie es gewagt, gegen ihren Mann Position zu beziehen. Dass er sie sexuell nicht mehr bedrängte, seitdem er sich regelmäßig an ihrer ältesten Tochter Vera vergriff, war für sie ein angenehmer Nebeneffekt, der ein Einschreiten ihrerseits noch unwahrscheinlicher machte.
So war Vera ihrem Vater, der sie als Eigentum betrachtete, seit ihrer Kindheit schutzlos ausgeliefert. Um zu überleben, übernahm sie die familiäre Verleugnung des Missbrauchs und hörte auf zu fühlen. Auch als sie längst eine eigene Familie gegründet hatte, hatte sie keine Kraft und kein Werkzeug, um sich aus ihrer Familie und deren kranken Gesetzen lösen, nicht einmal ein Hinterfragen der familiären Strukturen war ihr möglich. Richtig und Falsch hatten in Veras Familie andere Maßstäbe, verschobene, gestörte – und Vera hatte sie alle übernommen.
Karen empfand zum ersten Mal Mitleid mit ihrer Mutter, die sie bisher nur als Schuldige gesehen hatte. In dem Maß, in dem es ihr gelang, in ihrer Mutter zu gleichen Teilen das Opfer wie auch die Täterin zu sehen, konnte sie den alten Groll loslassen, der sie beschwert und gequält hatte. Auch ihre Unterleibsschmerzen nahmen ab. Bis heute hat es keine Aussöhnung zwischen Karen und ihrer Mutter und dem Rest der Familie gegeben. Karen zweifelt, ob sie den Kontakt ertragen könnte. Aber sie erkennt in den Grenzen ihrer Mutter ihr eigenes Wachstum. Karen hat sich im Gegensatz zu ihrer Mutter frei gemacht von den Gesetzen ihrer Familie, sie steht auf eigenen Füßen, sie lebt ihr eigenes Leben.
Ein Missbrauch der elterlichen Macht findet auch statt, wenn Eltern ihren Kindern auf andere Weise seelische oder körperliche Gewalt antun, sie verprügeln, sie verbal demütigen, ihre Grenzen überschreiten, ihren Selbstwert und ihre Würde verletzen. Missbrauchende und misshandelnde Eltern kommen in allen Schichten vor. Gestörte transgenerationale Loyalitätsbeziehungen auch. Nicht jedes missbrauchte oder misshandelte Kind schlüpft später in die Rolle seiner Eltern, aber das Risiko einer Wiederholung ist hoch, wenn der von den Eltern geforderte absolute Gehorsam nicht hinterfragt wird und die traumatischen Erfahrungen nicht einmal ansatzweise verarbeitet werden können.
Loyalität beruht grundsätzlich auf dem Prinzip, den anderen positiv zu bewerten und auch nichtangemessenes Verhalten zu entschuldigen oder zu bagatellisieren. Bei einer Täter-Opfer-Beziehung besteht darüber hinaus das Phänomen, dass die Opfer sich mit ihren Tätern identifizieren, um deren grausames Verhalten rechtfertigen zu können. Ein komplizierter Mechanismus aus Schuldgefühlen und der Abwehr von Ohnmacht unterstützt diese zunächst abstrus anmutende Identifikation mit dem Täter.
Aus dieser emotionalen Verstrickung und dem Mangel an gesünderen Handlungskompetenzen heraus entwickelt sich das einstige Opfer schließlich selbst zum Täter und zwingt nunmehr seinen Kindern das eigene Schicksal auf. In der Rolle des Täters werden die alten Gefühle von Ohnmacht und Schwäche ins Gegenteil umgekehrt, und es findet eine fatale Verschmelzung mit den mächtigen Eltern statt. Leidtragende dieser unbewussten Dynamik ist erneut die nächste Generation, die unschuldig in die nicht verarbeiteten seelischen Verletzungen ihrer Vorfahren hineingezogen wird und für sie büßen muss. So bleibt in vielen Familien der Kreislauf innerfamiliärer Gewalt bestehen.
Egal, ob wir Opfer von unbewusster, zu starker oder kranker
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