Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)
meiner Eltern oder Großeltern passiert ist?«, werde ich oft gefragt. Sogenannte transgenerationale Übertragungsprozesse finden meist auf verschiedenen Ebenen statt: über das genetische Erbe, über Verhalten, über Bindung, über erzählte Geschichten und faszinierenderweise auch über verschwiegene Geschichten.
Genetische Vorbelastungen ermöglichen die Weitergabe von psychischen Erkrankungen wie beispielsweise Schizophrenie, Depressionen und Süchten. Allerdings müssen zu dieser genetischen Veranlagung noch weitere, interaktive Auslöser und Verstärker hinzukommen, um die jeweilige Krankheit zum Ausbruch zu bringen: Eltern vererben nicht nur ihre Gene, sie bestimmen auch unsere emotionale Versorgung in der Kindheit und die Atmosphäre, in der wir aufwachsen, sie sind unsere ersten und wichtigsten Bindungspartner und dienen außerdem als Vorbild, wie den Widrigkeiten des Lebens begegnet wird.
Neben den Genen unserer Vorfahren übernehmen wir auch die Art, wie sie leben, wie sie die Welt betrachten, wie sie fühlen und denken. Wir lernen über die Beobachtung und Nachahmung unserer Eltern und die Identifikation mit ihnen, wie Beziehungen funktionieren, wie mit Konflikten umgegangen wird, welche Rollenvorbilder und Regeln angemessen sind. Gleichermaßen sind wir ihnen durch Liebe und Loyalität verbunden und versuchen, ihre Erwartungen bestmöglich zu erfüllen.
Nichts jedoch prägt uns so sehr wie unsere ersten Bindungserfahrungen, die wir in der Kindheit mit unseren Eltern machen. Sie entscheiden letztlich, wie bindungssicher und psychisch gesund wir werden. Und sie sind ein bedeutendes Transportmittel für Gefühlsübertragungen.
Bindung
»Ich krame in meiner verlorenen Kindheit
Nach einer Mutter, siele mich in Melancholie,
will Liebe erhaschen, egal, wie, wo und wann.«
ANNE SEXTON , »Das doppelte Bildnis«
Als Kind sind wir abhängig von unseren Eltern. Wenn sie uns nicht füttern, verhungern wir. Wenn sie uns nicht kleiden, erfrieren wir. Wenn sie uns nicht berühren, sterben wir. Die ersten Jahre unseres Lebens können ein Garten oder eine Wüste für uns sein: Wachsen wir als Kind in einer sicheren, liebevollen Umgebung auf, in der unsere Bedürfnisse angemessen befriedigt werden, entwickeln wir Urvertrauen, ein gutes Selbstwertgefühl und einen sicheren Bindungsstil, der es uns auch im Erwachsenenalter ermöglichen wird, stabile Beziehungen einzugehen. Sind wir hingegen häufigen Frustrationen und Zurückweisungen durch unzuverlässige, inkonsequente und vernachlässigende Bezugspersonen ausgesetzt, entwickeln wir negative Annahmen über uns selbst und unser Gegenüber. Ein unsicheres Bindungsverhalten und destruktive Beziehungen im Erwachsenenleben sind die Folge, in denen Sehnsucht und Misstrauen sich die Waage halten.
Die deutsche Schriftstellerin Katharina Ohana beschreibt in ihrer Autobiografie Ich, Rabentochter , wie sie lange Jahre unter der Lieblosigkeit ihrer Eltern litt und wie sich die in der Kindheit entwickelten inneren Modelle von Beziehungen bis ins Erwachsenenleben stabil hielten:
»Von jeher hatte ich immer das Gefühl, ich müsste mir jede Zuwendung mit großer Anstrengung erkämpfen, und gleichzeitig war ich immer auf Demütigungen und Absagen gefasst. Ich war mir sicher, dass die Welt genauso funktionierte, nur so funktionieren konnte, für mich und für alle anderen auch. Instinktiv hatte ich mir immer wieder die gleichen Situationen und Menschen angezogen, die mir diese Sicht mit ihrem Verhalten bestätigten, und erhoffte trotzdem von ihnen Wiedergutmachung und Heilung und die lang ersehnte Wertschätzung. Doch sobald mich jemand achtete, erlosch mein Interesse, ich ertrug die Fürsorge nicht. Mein Unterbewusstsein verglich die fremde Liebe mit den Misshandlungen meiner Eltern, und meine Psyche konnte die Einsicht nicht ertragen, dass meine eigenen Eltern mich schlechter behandelt hatten, weniger Interesse an mir zeigten als jemand, der mir eigentlich nicht verpflichtet war. So missachtete ich die Menschen, die mich aufrichtig liebten, um meine Eltern nicht verachten zu müssen und um den tiefen Schmerz nicht zu spüren, ein schlecht geliebtes Kind gewesen zu sein.«
Aus einem »schlecht geliebten Kind« wird sehr wahrscheinlich ein unsicher gebundener Erwachsener, der Angst vor Nähe und Intimität hat, der nicht glauben kann, dass man es wirklich ernst mit ihm meint. Das, was wir in der Kindheit mit unseren wichtigsten Bezugspersonen erleben, stanzt sich in unser Hirn
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