Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)
macht auf ihre Weise gut, was in der Vergangenheit nicht wiedergutzumachen ist.
Nur selten konfrontiert uns das Schicksal mit den Schatten unserer familiären Vergangenheit so dramatisch wie Tanja. Ob es sich um die Verbrechen im Nationalsozialismus oder um eine andere Schuld handelt – auch ein über die Generationen hinweg vollzogener Wertewandel fordert zu einer Positionierung heraus und lässt Menschen ihr Leben darauf ausrichten, alte familiäre Schulden zu begleichen oder Fehler der Vorfahren zu korrigieren.
Anette hat sich im Rahmen ihrer juristischen Laufbahn für das Richteramt entschieden – sie schämt sich für ihren Vater, der immer wieder wegen Betrugsdelikten inhaftiert wird. Ihr Bruder ist Polizist geworden, beide legen Wert darauf, in ihrem Leben auf der »richtigen« Seite des Gesetzes zu stehen.
Die Schwestern Judith, Kerstin und Maren werden im Abstand von jeweils einem Jahr geboren. Liebe von den Eltern bekommen die Mädchen nicht, lediglich untereinander gibt es Halt und Geborgenheit. Besonders die Älteste, Judith, leidet unter der offenen Ablehnung ihrer Eltern. »Alles an mir war immer falsch«, erinnert sie sich an das Grundgefühl ihrer Kindheit. Judith rutscht früh in die Drogenszene ab. Während die Eltern gleichgültig zusehen, versuchen die Schwestern, sie zu retten. Ein Entzug scheitert, während Judith schwanger ist. Immer noch abhängig, bekommt sie mit 19 Jahren ihre Tochter Milena, mit deren Versorgung sie heillos überfordert ist. Die 18-jährige Kerstin besucht ihre Schwester und ihre Nichte täglich und versucht zu helfen, wo sie kann. Zwei Jahre später, Judith ist nach wie vor heroinabhängig, ihre kleine Tochter zeigt bereits deutliche Verwahrlosungssymptome, entscheidet sich Kerstin, ihre Nichte bei sich aufzunehmen. Judith stimmt einer Adoption sofort zu. Kerstin ist 20 Jahre, als sie Mutter eines kranken Kleinkindes wird, dem sie all ihre Liebe verspricht. Auch Maren, die jüngste der Schwestern, kümmert sich hingebungsvoll um ihre Nichte. Milena wächst sehr behütet auf, aber die Erfahrungen ihrer ersten Lebensjahre zeichnen sie für ihr gesamtes Leben – sie ist entwicklungsverzögert, lernbehindert und verhaltensauffällig. Auch als Milena längst erwachsen ist und sich immer wieder in Schwierigkeiten bringt, hält ihre Familie zu ihr. Kerstin und Maren haben entschieden, dass sich ihre Kindheitserfahrungen bei Milena nicht wiederholen werden – in ihrer Familie soll sich nie wieder jemand ungeliebt fühlen, vernachlässigt oder verstoßen werden.
Es gibt keine moralische Pflicht, sich mit den Taten oder der Schuld der Vorfahren zu identifizieren oder gar dafür zu büßen. Diejenigen, die aber zurückblicken und es wagen, auch die dunklen Flecke auf der Familienweste wahrzunehmen, übernehmen bereits in diesem Moment Verantwortung für ihr eigenes Handeln. Die bewusste Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und den schuldhaften Aspekten im Leben der Eltern oder Großeltern führt oft zu dem Wunsch, sich davon abzugrenzen und im eigenen Leben etwas besser zu machen, etwas wiedergutzumachen. Oft werden die Schritte, die altes Unrecht heilen, als emotional befriedigend empfunden: Als Michael erfährt, dass sein Großvater den eigenen Bruder vor über 60 Jahren um seinen Teil des Erbes betrogen hat, entscheidet er sich, einen Teil seines Vermögens der Familie seines Großonkels zu vermachen. Nach der Schenkung fühlt er sich »so gut wie noch nie«. Er ist sehr zufrieden, dass er dazu beitragen kann, eine alte Ungerechtigkeit wieder auszugleichen. Und Thomas, Enkelsohn eines Holocaust-Leugners, verbringt nach der Schule ein Jahr als freiwillige Hilfskraft in einem israelischen Kibbuz und engagiert sich nach seinem Medizinstudium bei »Ärzte ohne Grenzen«. Seinen Sommerurlaub verbringt Thomas jedes Jahr in Krisengebieten und versorgt Kriegsopfer. »So rücke ich in meinem eigenen Leben etwas gerade, was bei meinem Großvater schiefgelaufen ist, und bin meinen Kindern ein Vorbild, sich für Arme und Schwache einzusetzen. Mein Leben lang war ich getrieben, ›das Richtige‹ zu tun. Heute bin ich ruhiger geworden, auch weil mir meine Arbeit und meine Auslandseinsätze Sinn geben. Vielleicht muss ich mich auch immer wieder real mit dem Elend der Welt konfrontieren, um hier, in unserer sicheren Wohlstandsgesellschaft, davon berichten zu können. Mein Großvater hat ja einfach Augen und Ohren zugemacht.« Thomas hat seinen Lebenssinn gefunden. Er muss allerdings
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