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Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)

Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)

Titel: Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Konrad
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die beim Tod der Eltern oder Großeltern noch sehr jung waren, also wenig gute Erfahrungen mit ihnen gemacht hatten. Oder denjenigen, die viele schlechte Erfahrungen mit ihnen gemacht hatten. Ein unbekannter (Groß-)Vater, eine lieblose (Groß-)Mutter, »schlechte« (Groß-)Eltern, zu denen man keine positive Beziehung aufgebaut hat, entbinden eher aus den Loyalitätsverpflichtungen als Vorfahren, an die man gute Erinnerungen hat. Beliebt machen sich die Aufklärer bei ihren Familien selten. Wer seine eigene Familie hinterfragt oder kritisiert, gilt oft als »Nestbeschmutzer«. Kurt Tucholsky beschrieb diese Absurdität folgendermaßen: »Im übrigen gilt ja hier derjenige, der auf den Schmutz hinweist, für viel gefährlicher als der, der den Schmutz macht« (Brief an Herbert Ihering vom 10. 8. 1922).
    Wer sich mit realer Schuld der Vorfahren auseinandersetzt, stellt sich unweigerlich die Frage: »Wie hätte ich selbst in der Situation gehandelt?« Die Antworten müssen hypothetisch bleiben, weil die Geschichte nicht eins zu eins reproduzierbar ist. Aber manchmal bietet sich die Gelegenheit, Entscheidungen zu treffen, mit denen wir unserem eigenen Leben eine andere Weichenstellung geben, als unsere Vorfahren es getan haben. So wie Tanja, die ihr eigenes Leben an einer Weggabelung bewusst entgegen den nationalsozialistischen Leitlinien ihrer Vorfahren ausrichtete.
    Tanja ist Einzelkind, sie wurde in den 1960er-Jahren geboren. Früh erfuhr sie, dass ihre Eltern und Großeltern fanatische Nationalsozialisten gewesen waren. Lebenswertes Leben, darüber hatte ihr Vater während des Dritten Reichs entschieden. Tanjas Vater machte Versuche mit Behinderten und brachte sie im Rahmen der Euthanasieprogramme schließlich um. Ihre Eltern, die sie wie jedes Kind liebte und von denen sie abhängig war, waren zugleich einstige Mitläufer, Verbrecher, Mörder.
    Tanjas Vater hatte sich einen Jungen, einen Stammhalter, gewünscht, er war enttäuscht, dass sein einziges Kind ein Mädchen war. Auf Bildern sieht man, wie die Familie und Tanja mit diesem »Schicksal des falschen Geschlechts« umgingen: Die ersten Jahre sieht Tanja wie ein Junge aus, kurze Haare, kurze Hosen, spitzbübisches Lächeln. Auch in der Pubertät und im jungen Erwachsenenalter kleidet Tanja sich freiwillig wie ein Junge – sie hätte alles getan, um von ihrem Vater die Zuneigung zu bekommen, die er ihr verweigerte.
    Wenn man Tanja heute betrachtet, scheint die Geschichte einer anderen Frau zu gehören. Lange, blonde Haare, ein apartes Gesicht, dezentes Make-up, ausgewählter Schmuck. Tanjas Leben änderte sich mit der Geburt ihres Sohnes. Als sie 27 Jahre alt war, wurde sie schwanger. Im Laufe der Schwangerschaft erfuhr sie, dass ihr Sohn aufgrund eines Gendefekts schwerbehindert zur Welt kommen würde. Tanja fiel ins Bodenlose. Ein behindertes Kind, lebenslang pflegebedürftig, wie sollte das funktionieren? Sie hatte ihre Ausbildung gerade abgeschlossen, wollte nach einer zweijährigen Pause ihr Kind in den Kindergarten geben und anschließend einen Job annehmen, um den beruflichen Anschluss nicht zu verpassen. Die Ärzte rieten ihr, die Schwangerschaft abzubrechen.
    »Aber ganz tief in mir drin wusste ich, dass Abtreibung nicht infrage kommen würde. Ich würde mein Kind nicht töten. ›Unwertes Leben‹, dieser Begriff ging mir ständig im Kopf herum. Es war, als ob das Schicksal meine Familie noch einmal herausforderte. Mein Vater hatte so viel Schuld auf sich geladen. Meine ganze Familie war infiziert von dem nationalsozialistischen Gedankengut. Ich war in gewisser Weise infiziert davon, weil ich mich der Überzeugung meines Vaters angeschlossen hatte mit dem Gefühl, nicht gut genug zu sein, falsch zu sein, nur weil ich nicht das war, was er sich gewünscht hatte – ein Junge. Und nun sollte mein Kind sterben, nur weil es nicht perfekt war? Weil es eine Behinderung hatte? Das kam nicht infrage.«
    Tanja und ihr Mann entschieden sich dafür, das Kind zu bekommen. Der kleine Felix kam schwerstbehindert auf die Welt. Gemeinsam mit ihrem Mann pflegte Tanja ihren Sohn, bis er kurz vor seinem siebten Geburtstag starb.
    Tanja ist eine bemerkenswerte Frau, die ihr Schicksal und das ihres Sohnes mit einer fast übermenschlichen Stärke annimmt. Lange Jahre war sie die brave Tochter ihres Vaters gewesen, aber als sie selbst Leben schenkt, schenkt sie es von ganzem Herzen und nimmt ihr Kind bedingungslos an. Sie stellt sich dem Leben und seinen Notwendigkeiten und

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