Das Blumenorakel
Vorwurfsvoll schaute sie über den Zeitungsrand hinweg auf Friedrich. »Keine Spur von Matriona Schikanowa. Und Piotr Vjazemskij scheint auch noch nicht angereist zu sein.«
»Dieser Vjazemskij war doch bekannt für seine Spielleidenschaft â für einen wie ihn ist Baden-Baden jetzt uninteressant geworden«, sagte Friedrich und tauchte schwungvoll seinen Löffel in den Marmeladentopf.
Es war ein regnerischer Morgen mit tiefhängenden Wolken und einem unangenehm böigen Wind. Die Kurgäste lagen gewiss noch in ihren Betten, daher erlaubte auch er sich den seltenen Luxus eines geruhsamen Tagesanfangs. Am Vorabend hatten sie die gute Stube geheizt, ein bisschen Restwärme hingnoch immer im Raum. Sogar Alexander schlief selig, dabei war er sonst am Morgen meist sehr früh wach â eine Angewohnheit, die er unbestritten von seiner Mutter geerbt hatte. Lächelnd schaute Friedrich zur Wiege am Fenster. Da betrat Ernestine das Zimmer.
»Was für ein Wetter!« In eine dicke Strickjacke gehüllt, setzte sie sich an den Tisch. Nachdem Sabine ihr Kaffee eingeschenkt hatte, umklammerte sie die Tasse so fest, als hinge ihr Leben davon ab. »Flora, täusche ich mich oder habe ich dich heute schon in aller Herrgottsfrühe durchs Haus rumoren gehört?«
»Ich ⦠Ja, ich war Blumen pflücken«, sagte Flora, krampfhaft bemüht, sich auf ihre Lektüre zu konzentrieren. »Aber da steht ja ⦠Na endlich! Fürstin Irina Komatschova, Fürst Popo, und da, die Gagarins und die Menschikows! Konstantin hatte also recht, als er sagte, sie kämen fast alle wieder.«
Friedrich lachte. »Dass diese Männer wiederkommen, hätte ich dir auch sagen können, mit ihrem Internationalen Club haben die sich für die Iffezheimer Rennbahn in dieser Saison gewiss einiges vorgenommen. Wer weiÃ, vielleicht darfst du sogar einmal einen Lorbeerkranz für den Sieger eines Rennens binden?«
Flora lächelte, doch es wirkte etwas gequält.
»So früh warst du Blumen pflücken? Es war noch nicht einmal ganz hell!«
»Na und?« Flora warf der Schwiegermutter einen irritierten Blick zu. »Jetzt im Frühjahr fällt mir das Aufstehen leicht. AuÃerdem bleibt mir so mehr Zeit für mein Tagwerk.« Hätte sie sagen sollen, dass es Konstantin war, der sie allmorgendlich so früh aus dem Bett trieb? Dass sie seinetwegen bereits im Halbdunkeln über die Wiesen und Felder schlich? Dass sie keinesfalls Gefahr laufen wollte, ihm noch einmal drauÃen zu begegnen?
Flora starrte abwesend auf ihre Hände. Dieser Kuss â was für eine Wonne! Heià und kalt war ihr dabei geworden, ein Schauer nach dem anderen war ihr den Rücken hinuntergelaufen, wohlig, aufregend â
Vorbei. Vergessen. Ein einmaliger Ausrutscher. So etwas würde nicht mehr passieren, dafür wollte sie sorgen.
Natürlich hatte sich Konstantin bei ihr entschuldigt. Er habe sich vom Strahlen des Morgens mitreiÃen lassen, von der Fülle der Natur, von dem Gefühl, in Flora eine Art Seelenverwandte entdeckt zu haben.
Seelenverwandtschaft â was für ein schöner Gedanke.
Flora riss sich zusammen und tippte auf die Namensliste der angereisten Gäste. »Mit den meisten Namen hier kann ich nichts anfangen. Wer sind diese Leute?«
Friedrich beugte sich über das Badeblatt und einen Moment lang glaubte sie, nicht seinen, sondern Konstantins Duft in der Nase zu haben. Nach Leder und Tabak und Cognac und â aber es war nur der Geruch der Tinktur, die Friedrich nach dem Rasieren auf die blutenden Stellen tupfte.
»Die meisten der hier aufgeführten Damen und Herren haben mit der Musikwelt zu tun oder stehen dem kulturellen Leben anderweitig nahe. Also wirklich, Flora, einige davon müsstest du schon aus dem letzten Jahr kennen.«
Sie zuckte mit den Schultern. Letztes Jahr? Sie hatte Mühe genug mit diesem Jahr. Damit, so zu tun, als ginge alles seinen normalen Gang. Damit, den Alltag alltäglich zu leben.
Dabei tobte tief in ihr eine Unruhe, wie sie es bisher noch nicht gekannt hatte. Oftmals hatte sie Mühe, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Wann kam Konstantin? Kam er überhaupt vorbei, um Blumen zu kaufen? Oder nahm die alte Fürstin ihn sehr in Anspruch? Natürlich schalt sie sich gleich im Anschluss für die vielen Gedanken, die sie ihm schenkte.
»Aber da stehen auch die Namen
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