Das Blutgericht
und so begnügte er sich damit, sie an seiner Hose abzuwischen. »Dann waren da noch die Wachleute im Erdgeschoss. Alle tot. Mindestens noch mal vier Leute.«
»Also hat ein einziger Mann zehn Leute auf einmal getötet?« Meine Frage war rein rhetorisch. Ich versuchte lediglich, die Fähigkeiten des Mannes einzuschätzen, nicht die Zahlen infrage zu stellen.
»Vielleicht sogar noch mehr«, sagte Seagram. »Aber das waren die, die ich gesehen habe.«
»Waffen?«, fragte ich.
»Nur eine Handfeuerwaffe, glaube ich.«
»Haben Sie sie gesehen? Beschreibung?«
»Ich konnte sie nicht richtig erkennen.«
»Völlig unbrauchbar, der Typ«, meinte Rink.
»Wie sah er aus?«, fragte ich ihn. »Sie haben ihn gesehen, beschreiben Sie ihn.«
Seagram kaute auf seiner Lippe herum. Es kam mir so vor, als wollte er etwas erzählen, aber sich auch noch etwas für später aufheben – seine persönliche »Du kommst aus dem Gefängnis frei«-Karte.
»Männlich, weiß. Groß gewachsen, aber dünn. Höchstens 75 Kilo. Er war angezogen wie ein Fassadenkletterer.«
»Sonst noch was?«
»Ja. Er hatte ein Nachtsichtgerät auf.«
»Und er hat es geschafft, fünf Leute in einem Zimmer zu erschießen?«
»Innerhalb von Sekunden«, bestätigte Seagram.
Verdammt guter Schütze, das musste man ihm lassen.
»Wir müssen jetzt gehen«, verkündete ich. Marianne schien nun nicht mehr so abgeneigt. Sie kam näher, und ich nickte ihr ermutigend zu. »Keine Angst. Ich werde nicht zulassen, dass er Ihnen wehtut. Oder dass jemand anders Ihnen wehtut.«
Mit zusammengebissenen Lippen warf sie einen Blick in Bradleys Richtung. Dann nahmen sie sich in die Arme.
»Wie lange ist es her, dass Sie den Killer gesehen haben?«, fragte Rink.
»Zehn … fünfzehn Minuten. Ich bin mir nicht sicher.«
»Wie weit ist Petres Haus weg?«
»Es ist das drittnächste Haus, vielleicht etwas weniger als einen Kilometer.«
»Also könnte er schon längst hier sein.«
»Ich bin noch ein paar Minuten im Haus geblieben, als er schon verschwunden war. Aber ich bin hierhergefahren. Er war zu Fuß.«
Rink warf mir einen Blick zu. Ich nickte. Uns war beiden etwas an Seagrams Schilderung aufgefallen. Aber wir gingen nicht darauf ein.
»Seagram, haben Sie auch schusssichere Westen bei Ihrer Ausrüstung?«, fragte ich.
Er dachte einen Moment nach. »Ja, ich glaube schon.«
»Dann bringen Sie sie her.«
»Eine müsste es zumindest geben.«
»Ich sollte bei Mr. Jorgenson bleiben«, sagte er, »um ihn zu beschützen.«
»Feigling!«, rief Rink. »Sagen Sie mir, wo das Scheißding ist, dann hole ich es halt.«
»Nein.« Seagram versuchte, sein Gesicht zu wahren. Er blinzelte dabei unkontrolliert, so richtig überzeugend waren seine Worte nicht: »Ich mache das schon. Kümmern Sie sich darum, dass Bradley geschützt wird.«
»Jetzt holen Sie schon die Weste, dann kommen Sie wieder hierher«, blaffte ich ihn an. »Und bringen Sie Ihre Männer mit, soweit sie noch leben.«
Seagram erhob sich von seinem Stuhl, etwas unsicher auf den Beinen. Er bewegte sich auf die Tür zu, stoppte und fummelte einen Revolver aus seinem Schulterholster. Einen Colt Mark III .38 Special mit Spannabzug. Die berühmte Waffe der Gesetzeshüter. In Seagrams zitternder Hand wirkte sie viel zu groß und fehl am Platz.
Geduckt schob er sich aus der Tür und verschwand im Korridor zu unserer Linken. Ich sprach Bradley an: »Wenn das hier vorüber ist, dann sollten Sie sich mal sehr genau ansehen, was für Leute Sie einstellen.«
Bradley biss sich auf die Lippen. Aber er dachte nicht über Seagrams Unfähigkeit nach. Er hatte seinen Vater verloren. Und jetzt war sein Cousin ums Leben gekommen. Die Familie Jorgenson schrumpfte in beängstigendem Tempo, und er fragte sich, ob er der Nächste sein würde.
Nicht mein Problem, entschied ich. Marianne war der einzige Grund, weswegen ich hier war. Bradley sollte seinem Glücksstern danken, dass ich ihn nicht bei der ersten Gelegenheit erschossen hatte. Vielleicht war Rinks Vorschlag, zu warten, bis Bradley abgelenkt war, und dann Marianne hinter seinem Rücken wegzubringen, doch keine so schlechte Idee. Sie wäre zwar wütend gewesen und hätte sich gesträubt, aber den ganzen jetzigen Ärger hätte uns das erspart.
Dann machen wir mal das Beste aus der Situation, dachte ich.
»Bradley, Sie werden uns helfen, Marianne in Sicherheit zu bringen«, befahl ich ihm.
Dann erklärte ich den Rest meines Plans.
Am Schluss waren wir uns alle
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