Wolfsschatten - Handeland, L: Wolfsschatten
1
Ein Gewittersturm während eines Donnermondes ist ebenso selten wie kraftvoll. Meine Urgroßmutter war der festen Überzeugung, dass in einer solchen Nacht Magisches geschieht. Sie vergaß zu erwähnen, dass Magie töten kann.
Die Julimitte in Nord-Georgia ist der feuchte Traum eines jeden Klimaanlagenvertreters. Theoretisch hätte der Bach hinter meinem Haus angenehm warm sein müssen. Praktisch war er das nicht.
Trotzdem schlüpfte ich aus meinem Morgenmantel und watete hinein; ich hob das Gesicht dem Donnermond entgegen und stimmte den Sprechgesang an, den meine E-li-si , meine Urgroßmutter, mich gelehrt hatte.
„Ich bade im Mondschein und spüre die Macht. Ich werde über den Blitz gebieten und den Regen trinken. Der Donner ist mein Lied und auch deins.“
Ich wusste nicht genau, was die Worte bewirken sollten, aber es waren die einzigen, an die ich mich vollständig erinnerte, darum rezitierte ich sie jedes Mal, wenn ich herkam. Sie aufzusagen tröstete mich. Die Erinnerungen an meine Urgroßmutter zählten zu den wenigen guten Erinnerungen, die ich hatte.
Ihr zufolge konnte ausschließlich eine auf Cherokee gesprochene Beschwörungsformel funktionieren. Leider starb sie, bevor sie mir mehr als ein paar Brocken der Sprache beibringen konnte. Ich hatte immer vorgehabt, sie gründlicher zu lernen, nur leider nie die Zeit dafür gefunden.
Sie hat mir all ihre Bücher, ihre Aufzeichnungen – die sie ihre Heilkunde nannte – hinterlassen. Da ich jedoch keines der Papiere, die sie in einem Schulordner aufbewahrte, lesen konnte, verstaubten sie im Geheimfach des Schreibtischs meines Vaters.
Ich habe meine E-li-si innig geliebt und trauerte jeden Tag um sie. Manchmal vermisste ich sie so sehr, dass mich eine riesige schwarze Wolke der Depression umhüllte, die ich kaum abzuschütteln vermochte.
„Eines Tages“, flüsterte ich der Nacht zu. „Eines Tages werde ich mir all ihre Geheimnisse zu eigen machen.“
Ein Blitz zuckte über den Himmel und das tiefer als normal. Der Mond schien noch immer, nur geisterten jetzt Wolken über seine Oberfläche. Donner grollte, ein gigantisches, graues Raubtier, das die mich umgebenden Berge erschütterte.
Die Blue Ridge Mountains waren immer mein Zuhause gewesen. Ich könnte sie niemals verlassen. Die Berge logen nicht, sie betrogen nicht, sie stahlen nicht, und vor allen Dingen ließen sie einen niemals im Stich. Die Berge würden immer hier sein.
Sie waren ebenso Teil von mir wie mein mitternachtsschwarzes Haar, meine hellgrünen Augen und meine Haut, die so viel dunkler war als die der anderen Stadtbewohner. Meine Vorfahren waren zugleich indianischer als auch afrikanischer Abstammung gewesen, mit einem gehörigen schottisch-irischen Einschlag.
Als meine Zehen vor Kälte zu prickeln begannen, stieg ich aus dem Wasser und hob meinen weißen Frotteemantel vom Boden auf. Ich schob die Arme hinein, und der silberne Schimmer des Mondes erlosch, als wäre er von einer riesigen Himmelshand fortgewischt worden. Der Wind pfiff durch die hoch aufragenden Kiefern wie ein seiner Gefangenschaft entronnener, zorniger Dschinn.
Ich stand am Bach und sah zu, wie der Sturm heraufzog. Ich mochte Stürme. Sie spiegelten den Tumult wider, der schon so lange in meinem Inneren tobte.
Doch dieser Sturm war anders als alle, die sonst über die Berge fegten – er war stärker, schneller, eigentümlicher. Ich hätte beim ersten Windhauch die Beine in die Hand nehmen und nach Hause rennen sollen.
Der Blitz war derart grell, dass ich die Augen schloss, trotzdem schien es, als hätte sich das Bild des aufreißenden Himmels und des elektrischen Flirrens, das sich aus ihm ergoss, in mein Gehirn gesengt. Ozongeruch driftete vorüber, und das Krachen des Donners schien mehr von unten als von oben zu kommen.
Ich öffnete die Augen, als gerade der nächste Blitz den Himmel sprengte. Ein grauenvolles, kreischendes Geheul folgte, und in der Ferne stob ein Funkenregen zur Erde.
„Ich habe ein ganz mieses Gefühl“, murmelte ich und beobachtete mehrere Minuten den entfesselten Himmel, bis das Handy in meiner Tasche zu schnarren begann.
Keine Ahnung, warum ich das Ding mitgenommen hatte. Die meiste Zeit hatte ich hier draußen kein Netz. Die Bäume waren zu hoch, die Berge zu nah. Oft kehrte ich nach Hause zurück, nur um festzustellen, dass ich das Handy entweder am Bach vergessen oder irgendwo auf dem Fußweg verloren hatte. Trotzdem war ich zu sehr Tochter meines Vaters, um jemals ohne
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