Das Boese in uns
gefährlicher ist, transsexuell zu sein, als irgendeiner anderen diskriminierten Minderheit anzugehören? Die Wahrscheinlichkeit, dass eine transsexuelle Person einem Hassverbrechen zum Opfer fällt, ist viel größer als bei Schwulen, Muslimen, Juden oder Afroamerikanern.«
»Ja, das weiß ich.«
»Und die Transsexuellen wissen es ebenfalls, Smoky. Die Jungen und Männer, die zu Frauen werden, die Mädchen und Frauen, die zu Männern werden - sie wissen, dass man sie ausgrenzen und verunglimpfen wird, vielleicht schlagen, vielleicht sogar umbringen. Sie tun es trotzdem. Und wissen Sie warum?« Ihre Hände zittern, und sie verschränkt sie im Schoß. »Sie tun es, weil es für sie keine andere Möglichkeit gibt, glücklich zu werden.«
»Erzählen Sie mir von Lisa«, bitte ich sie.
Denn das ist es, was sie in Wirklichkeit möchte. Das ist der Grund für meines Hierseins. Sie will, dass ich Lisa sehe, dass ich Lisa kennenlerne. Sie will, dass ich verstehe, was sie verloren hat, dass ich es fühle.
Sie schließt für einen Moment die Augen. Als sie sie wieder öffnet, sehe ich die Liebe darin. Rosario Reid ist eine starke Frau, und sie hat ihr Kind mit all ihrer Kraft geliebt.
»Ich werde zuerst über Dexter sprechen, denn so kam er zur Welt - als Junge. Er war ein freundlicher, hübscher Junge. Ich weiß, alle Eltern denken, dass ihre Kinder übers Wasser wandeln können, doch Dexter hatte tatsächlich keinen einzigen bösen Wesenszug. Er war ein kleiner, zierlicher Junge, aber nicht schwach. Sanft, aber nicht naiv. Verstehen Sie?« »Ja.«
»Ich nehme an, >Muttersöhnchen< wäre das Stereotyp, um ihn zu beschreiben, und bis zu einem gewissen Grad stimmt das auch. Doch Dexter hat sich nie hinter meinem Rock versteckt. Er hat seine Zeit wie jeder andere Junge verbracht, draußen, an der frischen Luft, und er hat sich mehr als einmal Ärger eingefangen. Er hat in der Little League gespielt und fing mit zehn Jahren an, Gitarre zu lernen; er hatte die eine oder andere Prügelei mit anderen Jungs. Kein Grund zu der Annahme, dass er zu irgendetwas anderem als einem prächtigen jungen Mann heranwachsen könnte. Ich musste ihn nur ganz selten bei seinem vollen Namen rufen.«
Sie geht davon aus, dass ich weiß, wovon sie redet, und sie hat recht. Es ist die universelle Sprache aller Mütter. Jedes Kind weiß, dass es in Schwierigkeiten steckt, wenn Mom den Vor- und Nachnamen zusammen benutzt. In ernsten Schwierigkeiten. Volle Deckung, und immer hübsch kleinlaut.
Rosario blickt mich an. »Wie alt war Ihre Tochter, als sie starb?«
»Zehn.«
»Das ist ein wundervolles Alter. Die letzten zwei, drei Jahre, ehe sie anfangen, Geheimnisse vor der Mutter zu haben.« Sie seufzt, doch es ist mehr Melancholie als Trauer. »Ich dachte, ich würde Dexter in- und auswendig kennen, aber natürlich kennt keine Mutter ihren Sohn, sobald er in die Pubertät kommt. Sie fangen an, sich abzugrenzen. Entsetzt von der Vorstellung, die Mutter könnte erfahren, dass sie masturbieren und Frauen im Sinn haben - schließlich ist die Mutter eine Frau. Ich war darauf vorbereitet. So laufen die Dinge nun mal. Doch Dexters Geheimnisse waren ganz andere als das, was ich erwartet hatte.«
»Wie kam es heraus? Woran haben Sie erkannt, dass er ein Problem ...« Ich unterbreche mich hastig. »Entschuldigung. Ist es falsch, es ein >Problem< zu nennen?«
»Das kommt darauf an. Für diejenigen, die sich der Vorstellung widersetzen, dass es transsexuelle Menschen gibt, ist es die Veränderung an sich, die das Problem darstellt. Für die Transsexuellen besteht das Problem darin, dass ihr Körper und ihre innere sexuelle Identität nicht übereinstimmen. Wie dem auch sei - ich würde sagen, >Problem< ist angemessen. Um Ihre Frage zu beantworten: Dexter hat sich als Knabe wahrscheinlich sehr lange unwohl in seiner Haut gefühlt. Er fing an zu ... zu experimentieren, als er gerade vierzehn war.«
»Experimentieren? Inwiefern?«
Ihre Hände zittern wieder, suchen einander und finden sich im Schoß. Sie schweigt sekundenlang, und ich sehe, dass sie einen inneren Kampf austrägt.
»Es tut mir leid«, sagt sie schließlich. »Es ist nur, dass ... Dexters Persönlichkeit, die Dinge, die ich so sehr an ihm geliebt habe, waren so unübersehbar in der Art und Weise, wie er seine ersten Ausflüge zur Erkundung seiner sexuellen Identität unternahm. Es waren BHs und Höschen, verstehen Sie?«
»Er hat Büstenhalter und Höschen getragen?«
»Ja. Ich fand sie
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