Das Boese in uns
wichtig, dass seine Entscheidung uns so wenig wie möglich beeinträchtigt. Können Sie sich das vorstellen?« Ihre Stimme ist voller Trauer und Erstaunen. »Ich erinnere mich noch genau, wie er gesagt hat: >Dad, was du tust, ist wertvoll. Du hilfst vielen Menschen. Ich möchte nicht, dass du diese Arbeit wegen mir aufgeben musst. Aber ich werde das auch nicht für dich aufgeben. Das ist der beste Kompromiss<. Ich denke, das ist dann schließlich zu Dillon durchgedrungen ... dass sein Sohn bereit war, sich öffentlich kasteien zu lassen, damit sein Vater in der Politik bleiben konnte. Ich sage nicht, dass es so glatt gelaufen ist, wie es sich jetzt vielleicht anhört, aber ...« »Dexter kam durch.«
»Ja.« Sie schaut mich an, und ich sehe nichts als tiefen Schmerz, durchsetzt mit Bedauern und vielleicht ein wenig Selbstvorwürfen. »Die Einzelheiten sind nicht wichtig. Wichtig ist, dass wir als gute politische Familie, die wir geworden waren, genau das taten, was Dexter vorgeschlagen hatte. Wir errichteten einen Treuhandfonds, und Dexter zog aus. Als er dann tatsächlich als Frau zu leben anfing ... wissen Sie Bescheid über diesen Teil des Prozesses?«
»Ja. Man muss ein Jahr als Mann oder Frau gelebt haben, bevor man eine Genehmigung zur Geschlechtsumwandlung erhält.«
»Genau. Es gibt keine chirurgischen Eingriffe, ehe man nicht das ganze Jahr überstanden hat. Für Dexter bedeutete das, als Frau gekleidet zur Arbeit zu gehen, als Frau auszugehen und so weiter. Die Wartezeit von einem Jahr soll dafür sorgen, dass man erkennt, ob man sich absolut sicher ist.«
»Das ergibt Sinn.«
»So sehe ich das auch. Und Dexter dachte ebenfalls so. Wie dem auch sei, als dieses Jahr begann, gaben wir unser perfekt formuliertes Statement ab. Dass wir unseren Sohn immer noch liebten, aber nicht mit seiner Entscheidung einverstanden wären. Es war ein Meisterstück der Täuschung.« Sie stockt, während sie nach Worten sucht. »Sie kommen nicht aus dem Süden, Smoky, oder? Darum können Sie wahrscheinlich auch nicht verstehen, wie groß die Unterschiede sind. Verstehen Sie mich nicht falsch - es gibt genügend liberale Intellektuelle in Texas, aber ich würde nicht gerade sagen, dass sie die Mehrheit bilden.«
»Verstehe.«
Rosario schüttelt den Kopf. »Nein. Sie haben eine Vorstellung, vielleicht ein Klischee. Aber Sie können nicht begreifen, wie es wirklich ist, wenn Sie nicht dort aufgewachsen sind. Sie stellen sich wahrscheinlich Tabak kauende Hinterwäldler mit Gewehrhalterungen in ihren Trucks vor. Die gibt es bei uns auch, zugegeben, aber das zutreffendere Bild ist das eines gebildeten, sehr intelligenten, sympathischen Individuums, das ohne mit der Wimper zu zucken predigt, dass Homosexualität eine Abscheulichkeit sondergleichen ist. Diese Person hat in der Regel einen Freund, eine Freundin, irgendjemanden, mit dem sie zusammen aufgewachsen ist - und dieser Jemand ist der Meinung, Schwule sollten mehr Rechte haben. Die beiden können trotz dieses trennenden Grabens Freunde sein, sehr gute Freunde sogar.« Sie hebt eine Augenbraue. »Aber wenn der liberale Freund der Schwule wäre? Oh nein. Und Transsexuelle? Ach du meine Güte! Missgeburten, Launen der Natur, vielleicht für beide Freunde in meinem Beispiel. Wir haben große Fortschritte gemacht im Süden, und ich liebe das Land. Es ist meine Heimat. Aber der Süden ist auch ein Gewohnheitstier, das sich großen Veränderungen mit aller Kraft widersetzt.«
»So langsam verstehe ich.«
»Dennoch kam Dexter, wie ich bereits sagte, immer noch an Weihnachten nach Hause«, fährt Rosario fort. »Allerdings stets heimlich.« Sie stockt. »Furchtbar, nicht wahr? Dass wir unser Kind wegen unseres politischen Ehrgeizes aufgegeben haben.«
Ich denke über ihre Worte nach. Diese Frau verdient eine ehrliche Antwort und keine abgedroschene, leere Floskel.
»Ich finde«, sage ich vorsichtig, »dass alles andere Dexter verletzt hätte. Er war überzeugt, das tun zu müssen, was er tat, doch er machte sich auch Sorgen, dass es die politische Karriere Ihres Mannes beeinträchtigen könnte. Ich meine, er hat öffentlich enterben gesagt. Anscheinend hat er nicht erwartet, dass einer von Ihnen beiden ihn tatsächlich enterben würde, oder?«
Sie sieht mich verblüfft an. »Nein. Nein, ich glaube nicht.«
»Dann war er sicher, dass Sie und Ihr Mann ihn liebten. Ich sage nicht, dass es alles entschuldigt, doch es ist sehr viel mehr als nichts, Rosario.«
Trauer ist manchmal
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