Das Boese in uns
einfach, manchmal komplex. Sie umfasst Selbstzweifel, Unsicherheit, Was-wäre-wenn, Wenn-doch-nur. Sie ähnelt Bedauern, doch sie ist viel stärker als Bedauern. Sie kann in einem einzigen Augenblick verschwinden oder bis zum Tod anhalten. Ich sehe dies alles in Rosarios Gesicht, und ich bin froh darüber, denn es bedeutet, dass ich ihr etwas Wahres sagen konnte. Lügen schmerzen, die Wahrheit jedoch bewegt uns.
Rosario braucht einen Moment, bis sie sich wieder unter Kontrolle hat. Immer noch keine Tränen.
»Also schön.Unser Kind hat dieses Jahr überstanden, und das war das Ende von Dexter. Ein Sohn starb, und eine Tochter wurde geboren. Noch dazu eine schöne Tochter. Lisa erblühte, sowohl innerlich als auch nach außen hin. Sie war schon immer ein glückliches Kind gewesen, doch nun schien sie zu strahlen. Sie war ... zufrieden. Und Zufriedenheit lässt sich nur schwer erreichen, Smoky.«
Mir fällt auf, wie leicht sie über die Geschlechtsumwandlung hinweggeht, wie locker ihr »Lisa« und »sie« über die Lippen kommen. Dexter wurde zu Lisa - nicht nur für sich selbst, auch für seine Mutter.
»Wie hat Ihr Mann sich verhalten?«
»Er hat sich nie recht wohl gefühlt mit der Vorstellung. Doch ich will nicht das Bild eines klischeebehafteten Intoleranten von ihm malen. Dillon liebte Dexter und gab sich alle Mühe, auch Lisa zu lieben. Er hielt es für sein eigenes Versagen, wenn es ihm nicht gelänge, nicht für ein Versagen Lisas.«
»Lisa hat das ebenfalls gesehen, nehme ich an.«
Rosario nickt und lächelt. »Sie hat es gesehen. Sie war ... glücklich. Die Hormone schlugen sehr gut an, und sie traf eine kluge Entscheidung, was ihre Brustoperation anging. Sie entschied sich für Implantate, die zu ihrer Figur passten, nicht zu groß und nicht zu klein. Sie gewöhnte sich an Make-up wie ein Fisch ans Wasser, sie bewegte sich ohne sichtliche Anstrengung wie eine Frau, und sie hatte einen guten Geschmack. Selbst der Stimmunterricht, für manche das Schwierigste überhaupt, hat ihr keine Probleme bereitet.«
Männer haben tiefere Stimmen, weil ihre Stimmbänder während der Pubertät länger werden. Diese Verlängerung ist nicht reversibel, und sie erfordert, dass Männer, die sich in Frauen verwandeln wollen, lernen müssen, mit höherer Stimme zu reden.
»Hatte sie vor ... wollte sie bis zur letzten Konsequenz gehen?«
Nicht alle Transsexuellen entscheiden sich für eine Operation ihrer Genitalien.
»Sie hatte sich noch nicht entschieden.«
»Warum war Lisa in Texas?«, frage ich. »Soweit ich informiert bin, lebte sie hier, in Virginia. War Sie bei Ihnen zu Besuch?«
»Sie kam zur Beerdigung ihrer Großmutter nach Texas«, sagt Rosario. »Dillons Mutter.«
»Waren Sie und der Kongressabgeordnete auf dieser Beerdigung?«
»Ja. Es war eine kleine, private Beisetzung, ohne Pressevertreter und Fernsehteams. Zum Glück befinden wir uns nicht in einem Wahlkampf. Wir feierten den Gottesdienst, und Lisa flog am nächsten Tag nach Hause. Sie hätte morgen eigentlich wieder arbeiten müssen.«
»Was hat sie beruflich gemacht?«
»Sie hatte ein eigenes Reisebüro. Einen Einmannbetrieb, aber die Geschäfte liefen gut. Lisa hatte eine profitable Nische gefunden. Urlaub speziell für Schwule, Lesben und Transsexuelle.«
»Wissen Sie, ob Lisa Feinde hatte? Hat sie erwähnt, dass sie von jemandem belästigt wird?«
»Nein. Ich will die Frage nicht einfach abtun, Smoky - es war das Erste, woran ich gedacht habe -, aber mir ist nichts dergleichen aufgefallen.«
Vielleicht wärst du überrascht, geht es mir durch den Kopf, doch ich sage nichts.
All diese nächtlichen Geheimnisse, die großen wie die kleinen, die anklopfen, wenn der Mond hinter einer Wolke verschwindet - auch Kinder haben sie schon, und die Eltern sind üblicherweise die Letzten, die davon erfahren.
»Was ist mit Ihnen oder Ihrem Mann? Ich nehme an, Sie beide haben Feinde - jeder Prominente hat Feinde. Aber gibt es etwas Besonderes, das erst kurze Zeit zurückliegt?«
»Etwas Besonderes? Ich wünschte, ich könnte diese Frage bejahen. Nun ja ... Dillon bekommt hin und wieder verrückte Briefe. Ich lese sie alle, ehe ich sie an den Secret Service weiterleite. Der letzte Brief dieser Art kam vor sechs oder sieben Monaten. Irgendein Irrer drohte Dillon, ihn allein mittels der Kraft seiner Gedanken umzubringen. Aber im Moment gehen wir gerichtlich nicht gegen so etwas vor. Ehrlich gesagt, tun wir das kaum einmal. Deshalb konnte Dillon ja für
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