Das böse Spiel der Natalie Hargrove (German Edition)
flüchtete das Käuzchen.
»Du hättest nicht herkommen sollen«, sagte ich.
Seufzend verschränkte Mike die Arme vor der Brust und lehnte sich an den Felsen auf der anderen Seite der Nische. Er schien mir so nahe, dass ich kaum atmen konnte, und doch so weit weg.
»Nat, ich habe heute einen Anruf bekommen«, sagte er und vermied es, mich anzusehen. »Von deinem Dad.«
»Das ist unmöglich«, sagte ich, und schon begann ich insgeheim, nach einer schnellen Erklärung zu suchen, nach einem Ausweg. Aber ich war so müde. Es war vorbei.
»Ich bin dir nicht böse«, sagte Mike, setzte sich neben mich und griff nach meiner Hand. »Es hört sich vielleicht verrückt an, aber endlich ergeben einige Dinge Sinn. Ich verstehe sogar, warum du gelogen hast.«
Ich schüttelte seine Hand ab. »Du weißt nicht, warum ich irgendetwas von dem getan habe, was ich tat. Du weißt eigentlich gar nichts von mir.«
»Dein Dad hat mir mehr über dich erzählt, als du mir selbst je verraten hättest«, sagte er. »Er sagt, er hätte versucht, wieder Kontakt zu dir zu bekommen.«
Einen Augenblick lang fragte ich mich, wie genau mein Dad unsere grauenvolle Vergangenheit wohl beschrieben hatte. Hatte er Mike von den zwei Jahren erzählt, in denen er jeden Morgen so tat, als ginge er zur Arbeit an den Docks, und stattdessen zusammengesunken an der Bar endete? Oder wo er gelandet war, nachdem seine Kumpels auf der Wache ihm Handschellen verpasst hatten? Mike war ein Neuling, wenn es darum ging, von meinem Vater hereingelegt zu werden, ich aber hatte seinen Entschuldigungen und seinen Schwüren, sich zu ändern, zu oft geglaubt, um noch einmal in diese Falle zu tappen.
»Du kennst meinen Vater nicht«, erklärte ich resolut. »Er beherrscht die Kunst des Betrugs perfekt.«
Ich stand auf und ging auf dem schmalen Felssims auf und ab. Ich konnte nicht glauben, dass wir so ein Gespräch führten. Es war fast schade, dass ich meinen Vater nie wieder sehen würde, dass ich nie die Gelegenheit haben würde, mich dafür an ihm zu rächen.
»Mike, du darfst nicht immer alles glauben, was man dir sagt. Er hat dich nicht angerufen, weil er sich Sorgen um mich macht«, sagte ich. »Wahrscheinlich hat er dich angerufen, weil er herausgefunden hat, wie viel Geld du hast.«
Mike schüttelte den Kopf. »Du bist durcheinander«, sagte er und versuchte, mich in die Arme zu nehmen. »Du bist nur müde und durcheinander.«
Ich stieß ihn fort. »Und du willst die Realität nicht sehen.«
Mike stieg das Blut in die Wangen und er sprang auf.
» Ich will die Realität nicht sehen?«, fragte er. »Ich war derjenige, der von Anfang an alles sagen wollte, was passiert ist. Und ich bin nicht derjenige, der sein ganzes Leben lang vor seiner Vergangenheit davonläuft.«
»Warum solltest du auch?«, fuhr ich auf. »Du bist Mike King. Du hast keine Ahnung, wie es ist, wenn man davonlaufen muss.«
Dabei fiel mir ein …
Ich musste gehen. Ich hatte Charleston mit einem guten Gefühl verlassen wollen und eine friedliche letzte Geste am Wasserfall gesucht, aber jetzt, wo Mike aufgetaucht war und das unmöglich gemacht hatte, wollte ich nur noch so schnell wie möglich weg. Ich bückte mich, um das Album in meinen Rucksack zu stecken.
»Was ist das?«, fragte Mike und nahm es mir aus der Hand. Das Album klappte bei einem Bild auf, das uns beide genau hier, am Wasserfall, zeigte, zu einer so viel unschuldigeren Zeit unserer Beziehung. Mike sah mich an und in seine Augen traten Tränen.
»Warum hast du das hierher mitgenommen?«, fragte er. »Was hast du sonst noch in dem Rucksack?«
»Nichts«, stieß ich hervor. »Lass mich einfach in Ruhe.«
»Nat, was ist los?« Er griff nach dem Rucksack auf meiner Schulter, doch ich hielt die Riemen fest. Nach einem kurzen Moment des Hin-und-her-Ziehens spürte ich, wie der Reißverschluss nachgab. Er riss in der Mitte auf und ließ eine klaffende Öffnung wie das purpurne Maul einer Venus-Fliegenfalle entstehen. Ungefähr zwanzig Päckchen Kaugummi flogen in alle Richtungen, aber erst als das eine Objekt, das Mike nicht sehen sollte, durch die Luft flatterte und vor seinen Füßen landete, schrie ich erschrocken auf.
Er bückte sich, um es aufzuheben. Ich hielt den Atem an. Mike schluckte schwer, als er das Busticket nach New York sah. Einfache Fahrt.
Er runzelte die Stirn. Dann sah er auf die Uhr und meinte: »Es wird schon ein bisschen eng bis zur Abfahrt, oder?«
»Mike.«
Ich machte einen Schritt auf ihn zu, doch
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