Das Bourne Imperium
Waffen waren Symbole. Eine Präzisionswaffe war ebenso ein Statussymbol wie eine teure Uhr, von der es zwar Nachahmungen gab, die ein geschulter Blick aber sofort durchschaute. Eine solche Waffe konnte man herzeigen, um seinen Status unter Beweis zu stellen. Sie war das Erkennungszeichen einer Elite. Keine Zeit! Das geht dich nichts an! Weiter!
Jason entlud die Pistole, steckte die Munition ein und warf die Waffe in den Wald. Dann kroch er auf den Weg hinaus und ging langsam und lautlos auf die flackernden Lichter hinter der Wand aus hohen Bäumen zu.
Was er sah, war keine Schlucht. Es war ein riesiger Krater aus prähistorischen Zeiten, eine Wunde, die bis in die Eiszeit zurückreichte und noch nicht geheilt war. Vögel flatterten darüber, neugierig und erschreckt; aufgestörte Eulen schrien misstönend. Bourne stand am Rand des Abhangs und blickte zwischen den Bäumen auf die fackelbeleuchtete Versammlung. David Webb stöhnte, hätte sich am liebsten übergeben, aber ein eiskalter Befehl hielt ihn davon ab.
Hör auf. Beobachte. Finde heraus, womit wir es zu tun haben.
An einem kräftigen Ast hing ein Gefangener an einem Seil, das mit seinen gefesselten Handgelenken verbunden war, die Arme über sich ausgestreckt, die Füße wenige Zoll vom Boden. Seiner Kehle entrangen sich trotz des Knebels im Mund unartikulierte Laute. Seine Augen flackerten wild.
Ein schlanker Mann mittleren Alters in langen Hosen und Mao-Jacke stand vor dem sich heftig windenden Körper. Seine rechte Hand umschloss das juwelenbesetzte Heft eines dünnen Schwertes, dessen Spitze in der Erde steckte. David Webb erkannte die Waffe. Es handelte sich um das Zeremonienschwert eines Kriegsherrn aus dem vierzehnten Jahrhundert, einer brutalen Kaste von Militaristen, die
Dörfer und Städte und ganze Landstriche vernichtet hatten, die auch nur im Verdacht standen, sich dem Willen der Yuan-Kaiser zu widersetzen. Doch diese Schwerter wurden nicht nur für Zeremonien, sondern auch für ganz brutale Zwecke gebraucht. David spürte eine Welle der Übelkeit in sich aufsteigen, als er die Szene unter sich beobachtete.
»Hört mir zu!«, schrie der schlanke Mann und drehte sich zu seinen Zuhörern herum. Seine Stimme klang schrill, aber entschlossen, und zwang die Zuhörer in ihren Bann. Bourne kannte ihn nicht, aber sein Gesicht war nicht zu vergessen. Das kurz gestutzte graue Haar, die hageren, bleichen Züge – und ganz besonders sein Blick. Jason konnte seine Augen nicht deutlich erkennen, aber der Feuerschein der Fackeln spiegelte sich in ihnen. Und diese Augen loderten ebenso.
»Die Nächte des Großen Schwertes beginnen !«, schrie der schlanke Mann. »Und sie werden sich fortsetzen, Nacht für Nacht, bis alle, die uns verraten würden, zur Hölle geschickt sind! Jedes einzelne dieser giftigen Insekten hat sich an unserer heiligen Sache versündigt, hat Verbrechen begangen, die zu dem großen Verbrechen führen könnten, die nach dem Schwert verlangen.« Er wandte sich dem gefesselten Gefangenen zu. »Du! Die Wahrheit, und nichts als die Wahrheit! Kennst du die Langnase?«
Der Gefangene schüttelte den Kopf, und wieder drang unterdrücktes Stöhnen aus seiner Kehle.
»Lügner!«, schrillte eine Stimme aus der Menge. »Er war heute Nachmittag am Tian An Men!«
»Er hat gegen das wahre China gesprochen!«, schrie ein anderer. »Ich habe ihn im Hua-Gong-Park bei den jungen Leuten gehört!«
»Und in dem Kaffeehaus an der Xidan Bei!«
Der Gefangene zuckte zusammen, und seine geweiteten Augen starrten erschreckt in die Menge. Bourne begriff. Der Mann hörte hier Lügen und wusste nicht warum, aber Jason wusste es. Die Inquisition tagte; ein Unruhestifter, oder ein Mann mit Zweifeln, wurde im Namen eines größeren Verbrechens eliminiert. Die Nächte des Großen Schwertes
beginnen – Nacht für Nacht! Eine Schreckensherrschaft in einem kleinen, blutigen Reich inmitten eines riesigen Landes, wo Jahrhunderte lang blutrünstige Kriegsherren gewütet hatten.
»Das hat er getan?«, schrie der hagere Redner. »Das hat er gesagt ?«
Ein fanatisches Stimmengewirr erfüllte die Schlucht.
»Am Tian An Men …!«
»Er hat mit der Langnase gesprochen …!«
»Er hat uns alle verraten …!«
»Er will unseren Tod, unsere Niederlage …!«
»Er spricht gegen unsere Führer, will ihren Tod …!«
»Sich gegen unsere Führer zu stellen«, sagte der Mann mit dem Schwert ruhig, aber immer lauter werdend, »heißt, sie in den Schmutz ziehen. Das ist
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