Das Bourne Imperium
dichte Unterholz zur Rechten des Weges. Bald musste er feststellen, dass die lianenartigen
Gewächse wild gewachsen und im Lauf der Jahre ineinander verwoben wie Fischernetze waren. Sie auseinander zu reißen oder zu zerbrechen würde Lärm machen, der nicht zu den normalen Geräuschen des Vogelreservats passte. Das Knicken von Zweigen klang anders als das Flattern von Vogelschwingen oder das Kreischen aufgestörter Bewohner des Reservats. Er griff nach seinem Messer und wünschte, die Klinge wäre länger. Er brauchte für die paar Meter fast zwanzig Minuten, um sich lautlos einen Pfad bis zu dem Posten zu bahnen.
»Mein Gott!« Jason hielt den Atem an und unterdrückte einen Schrei. Er war ausgeglitten; das glitschige, zischende Geschöpf unter seinem linken Fuß war wenigstens eineinhalb Meter lang. Jetzt wand es sich um sein Bein, und er packte in seinem Schrecken danach, zog es von seinem Fleisch weg und schnitt es mit dem Messer auseinander. Die Schlange schlug ein paar Sekunden wild um sich, dann ließen ihre Zuckungen nach; sie war tot und entrollte sich zu seinen Füßen. Er schloss die Augen und schauderte, ließ einen Augenblick verstreichen. Dann kauerte er sich wieder nieder und kroch näher an den Posten heran, der sich gerade wieder eine Zigarette anzündete, oder besser gesagt, versuchte, sie mit einem Streichholz nach dem anderen anzuzünden, von denen keines Feuer fing.
»Ma de shizi, shizi!«, stieß er halblaut hervor, die Zigarette im Mund.
Bourne kroch weiter, schnitt die letzten paar dicken Halme weg, bis er nur noch zwei Meter von dem Mann entfernt war. Er schob das Jagdmesser in die Scheide und griff wieder in die Hüfttasche nach seinen Drahtspulen. Kein Messerstich durfte dem Mann noch einen Schrei erlauben; ein konvulsivischer letzter Atemzug war das einzig gegebene Ende.
Er ist ein menschliches Wesen! Ein Sohn, ein Bruder, ein Vater!
Er ist der Feind. Unser Ziel. Das ist alles. Marie gehört dir, nicht denen.
Jason Bourne stürzte sich aus dem Gras vorwärts, als der
Mann den ersten Zug inhalierte. Der Rauch quoll aus seinem weit aufgerissenen Mund. Die Drahtschlinge spannte sich, und dann stürzte der Mann mit durchschnittener Luftröhre ins Unterholz, schlaff und tot.
Jason riss den blutigen Draht zurück, wischte ihn im Gras ab, rollte die Spulen zusammen und stopfte sie sich wieder in die Tasche. Er zerrte die Leiche tiefer ins Unterholz, weg vom Weg, und durchsuchte die Taschen des Postens. Das Erste, was er fand, fühlte sich wie ein Bündel zusammengefaltetes Toilettenpapier an, in China eine Mangelware. Er zog die Taschenlampe vom Gürtel, hielt die Hand darüber und betrachtete erstaunt seinen Fund. Das Papier war zusammengefaltet und weich, aber es handelte sich nicht um Toilettenpapier. Es war Geld, Tausende von Yuan, mehr als die meisten Chinesen in Jahren verdienten. Der Posten am Tor, der »Hauptmann der Kuomintang«, hatte auch Geld gehabt – mehr als Jason für normal hielt –, aber bei weitem nicht so viel wie dieser. Als Nächstes kam eine Brieftasche mit Fotos von Kindern, die Bourne schnell wieder zurücksteckte, ein Führerschein und ein Ausweis für ein Mitglied der Volkssicherheitskräfte ! Jason zog das Papier heraus, das er der Brieftasche des ersten Postens entnommen hatte, und legte die beiden Ausweise nebeneinander auf den Boden. Sie waren identisch. Er faltete beide zusammen und steckte sie in die Tasche. Der letzte Gegenstand war ebenso verblüffend wie interessant. Es war ein Passierschein, der seinem Besitzer den Zugang zu den Freundschaftsläden erlaubte, jenen Geschäften, die für ausländische Reisende eingerichtet waren und zu denen Chinesen, abgesehen von höchsten Regierungsbeamten, keinen Zutritt hatten. Wer auch immer diese Männer hier waren, dachte Bourne, sie waren eine seltsame elitäre Gruppe. Untergeordnete Posten trugen Unsummen Geld bei sich und genossen Privilegien, wie sie eigentlich nur wesentlich höheren Rangstufen zukamen, und hatten Ausweise der Geheimpolizei. Wenn es wirklich Verschwörer waren – und alles, was er von Shenzen bis zu diesem Vogelreservat gehört hatte, schien das zu bestätigen –, dann reichte diese
Verschwörung weit in die Hierarchie von Beijing hinein. Keine Zeit! Das betrifft dich nicht!
Die Waffe, die der Mann umgeschnallt hatte, war, wie zu erwarten, der ähnlich, die in seinem Gürtel steckte, oder jener, die er am Jing-Shan-Tor in den Wald geworfen hatte. Es war eine hochwertige Waffe, und
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