Das Bourne-Vermächtnis
gelehnt, liegen, wo er außer Sichtweite des Attentäters war.
Als er nun den Kopf hob, stellte er fest, dass er nicht weit von dem Kirchturm entfernt war. Dicht vor ihm ragte ein niedrigerer Turm mit einer ihm zugekehrten schmalen Fensteröffnung auf. Dieses mittelalterliche Fenster war unverglast. Er zwängte sich hindurch, stieg eine steile Wendeltreppe hinauf und gelangte so auf eine schmale Steinbalustrade, die direkt zum Südturm hinüberführte.
Bourne konnte nicht abschätzen, ob der Attentäter ihn sehen würde, wenn er die Balustrade überquerte. Er holte tief Luft, stürmte aus der Tür, spurtete über die schmale Steinbalustrade. Als er vor sich eine schemenhafte Bewegung sah, rollte er sich zu einer Kugel zusammen, während ein Schuss knallte. Im nächsten Augenblick war er schon wieder auf den Beinen, und bevor der Attentäter den nächsten Schuss abgeben konnte, war er in der Luft und gelangte diesmal mit einem Hechtsprung durch das offene Turmfenster vor ihm.
Weitere Schüsse hallten ohrenbetäubend laut, und
Steinsplitter umsummten ihn, als er die Wendeltreppe im Inneren des Turms hinaufhetzte. Über sich hörte er ein metallisches Klicken, das ihm sagte, dass sein Gegner seine Munition verschossen hatte. Er nahm jetzt zwei Stufen auf einmal, um diesen vorübergehenden Vorteil auszunützen. Er hörte ein weiteres metallisches Klirren, dann kam eine leere Patronenhülse sich überschlagend die Steintreppe herabgehüpft. Ohne sein Tempo zu verringern, krümmte er den Rücken, um ein möglichst kleines Ziel zu bieten. Je länger kein Schuss mehr fiel, desto höher war die Wahrscheinlichkeit, den Attentäter einzuholen.
Mit Wahrscheinlichkeiten konnte er sich nicht begnügen, er musste sich Gewissheit verschaffen. Er richtete Annakas Stablampe nach oben, schaltete sie ein. Er sah sofort Spuren eines verschwindenden Schattens auf den Stufen über ihm und verdoppelte seine Anstrengungen.
Die Lampe schaltete er wieder aus, um dem Attentäter seine Position nicht zu verraten.
Sie befanden sich jetzt in achtzig Metern Höhe dicht unterhalb der Turmspitze. Hier gab es für den Unbekannten keinen Fluchtweg mehr. Er würde Bourne erledigen müssen, um sich aus dieser Falle zu befreien. Seine Verzweiflung würde ihn gefährlicher und zugleich risikobereiter machen. Von Bourne hing es ab, wie er diese Risikobereitschaft zu seinem Vorteil nutzte.
Über sich konnte er sehen, wo der Turm mit einer
runden Plattform endete, die von hohen Steinbogen umgeben war, die Wind und Regen ungehindert einließen.
Bourne machte Halt. Ihm war bewusst, dass er riskierte, in einen Kugelhagel zu geraten, wenn er seinen Sturmlauf fortsetzte. Und trotzdem durfte er hier nicht bleiben.
Er legte die Stablampe schräg nach oben gerichtet auf eine Stufe über sich, drückte sich flach an die Wand, zog den Kopf ein, machte einen möglichst langen Arm und schaltete die Lampe ein.
Der dadurch ausgelöste Kugelhagel krachte ohrenbetäubend laut. Noch während das Echo der Schüsse durch den Turm hallte, stürmte Bourne die restlichen Stufen hinauf. Er hatte darauf gesetzt, dass der Attentäter aus Verzweiflung sein gesamtes Magazin leer schießen würde, wenn er glaubte, dies sei Bournes endgültiger Angriff.
Durch eine Wolke aus Steinsplittern stürmte Bourne mit gesenktem Kopf gegen den Unbekannten an, drängte ihn über die Plattform zurück, knallte ihn gegen einen der Steinbogen. Der Mann hämmerte mit beiden Fäusten gleichzeitig auf Bournes Rücken, sodass er auf die Knie sank. Dabei senkte er den Kopf, wodurch sein Nacken ein allzu verlockendes Ziel bot. Als der Attentäter einen Handkantenschlag anbringen wollte, packte Bourne den herabzuckenden Arm, nutzte den Schwung des Angreifers gegen ihn aus und holte den Mann so von den Beinen. Als er zu Boden ging, traf Bourne mit einem Fausthieb seine Niere.
Der Attentäter umschlang Bournes Fußknöchel mit
den Beinen und verdrehte sie, sodass er auf den Rücken knallte. Der Mann stürzte sich auf ihn. Sie kämpften miteinander, während das Licht der Stablampe von einem Nebel aus aufgewirbeltem Staub verdüstert wurde.
In dem schwachen Lichtschein sah Bourne das lange, scharf geschnittene Gesicht des Attentäters, sein blondes Haar, die hellen Augen. Das verblüffte ihn sekundenlang. Ihm wurde bewusst, dass er erwartet hatte, der Attentäter werde Chan sein.
Bourne wollte diesen Mann nicht töten; er wollte ihn verhören. Er wollte unbedingt wissen, wer der Kerl war, wer
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