Ich bin dein Mörder: Thriller (Sam Burke und Klara Swell) (German Edition)
Prolog
Lieber Sam,
werden wir das, was wir sind? Oder sind wir das, was aus uns geworden ist? Ich persönlich muss daran glauben, dass die Erste ein Unfall war und dass es nicht meine Entscheidung war, dass alles so gekommen ist. Vielmehr hat mich aus heiterem Himmel ein Schicksal ereilt, das jeden anderen hätte treffen können. Und so war dieser erste Mord auch keineswegs unausweichlich. Im Gegenteil. Tatsächlich hätte der Flügelschlag eines Schmetterlings ausgereicht, alles zu verändern. Dann hätte ich mein Leben nicht dem Tod widmen müssen. Ja, ich betrachte alles, was danach kam, tatsächlich als Notwendigkeit. Zumindest seit jenem schicksalhaften Moment im Jahr 1994 gab es für mein Leben kein Zurück mehr. Seit diesem Tag treibt mein Leben mit mir auf den Tod zu, in mehrfacher Hinsicht. Nicht nur mein eigener Tod ist unausweichlich, sondern auch der vieler anderer, die meinen Weg kreuzen. Zwölf Tode insgesamt, um genau zu sein. Aber ich greife vor. Beizeiten wirst du alles erfahren, was du wissen musst. Aber ich möchte uns die Gelegenheit geben, einander kennenzulernen, und dafür darf ich dir nicht alles auf einmal verraten. Es würde dich und mich überfordern. Möglicherweise möchte ich, dass du mich verstehst, obwohl das natürlich unmöglich ist. Vielleicht ist das aber auch nicht so wichtig, vielleicht zählt nur, was wir glauben.
Ich schreibe diese Zeilen nicht grundlos in einer Kirche, was dir ob ihres Inhalts seltsam vorkommen mag. Aber verrate mir etwas über dich: Wann warst du
zum letzten Mal in einer Kirche? Hast den Duft von Weihrauch und kaltem Stein eingeatmet? Roch es nach Leben oder roch es nach Tod? Hast du die kunstvollen Schnitzereien betrachtet, die auf den ersten Blick wirken, als huldigten sie dem Leben, und doch zeigen sie nichts als den Tod? Oder hast du nur gehofft, dass das kirchliche Zeremoniell, das dir fremd geworden ist in deinem Alltag, möglichst schnell vorübergehen möge? Betrachte die Figuren einmal genauer: Sie sollen uns erklären, was unser Innerstes zusammenhält. Hörst du noch den Chor aus dem Seitenschiff? Leise und doch kraftvoll? Sie besingen den ewigen Kreislauf. Der Tod ist das Einzige, was unser Leben zusammenhält. Darf ich deshalb nicht hier sein? Weil ich sein Bote bin? Sollte ich deshalb etwa gar nicht erst sein? Ich bin nicht im tieferen Sinn religiös, aber mir gefällt die Nähe zum Tod, die ich in Kirchen deutlicher spüre als auf jedem Friedhof, sei er jüdisch, muslimisch oder christlich. Vermutlich liegt das daran, dass der Tod hier auf die Hoffnung trifft. Du wirst dich mittlerweile fragen, warum ich dir diesen Brief schreibe. Möglicherweise möchte ich alldem ein Ende setzen, dem, wohin sich mein Leben gewandt hat. Aber eigentlich glaube ich das nicht. Wahrscheinlicher ist, dass ich möchte, dass die Gesellschaft eine faire Chance bekommt. Eine faire Chance gegen das vorzugehen, was aus mir geworden ist. Gegen jemanden, dessen Leben dem Tod gewidmet ist. Denn eines habe ich mich während der vergangenen fünfundzwanzig Jahre immer wieder gefragt: Warum sucht Ihr mich nicht? Ich habe so viele Frauen umgebracht, und Ihr habt sie einfach vergessen. Warum suchst du mich nicht, Sam? Ich sehe, wie eine der gespendeten Kerzen erlischt, genau in diesem Moment. Ich muss gehen. Das nächste Mal erzähle ich dir von Betty.
Tom
Kapitel 1
Sing Sing Correctional Facility, Ossining, New York
Freitag, 8. Juni
Sam stellte die lederne Aktentasche auf den ausgeblichenen Linoleumboden des Beobachtungsraums, direkt unter das Fenster mit der verspiegelten Scheibe. Er warf der Tasche einen kurzen Blick zu, oder besser, ihrem Inhalt. Denn auf den Unterlagen zum ›Praxisseminar Gewaltverbrecher II ‹ lag der Brief, der heute Morgen zwischen seinen Rechnungen gesteckt hatte. Unscheinbar. Weißer Umschlag, ein gedruckter Adressaufkleber. Kein Absender. Er schluckte. Ein ganz normaler Brief? Im Gegenteil. Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Vermutlich ein Spinner. Egal. Und doch schien ihn der Brief aus seiner Aktentasche heraus anzustarren.
Dreißig Augenpaare blickten erwartungsvoll, abwechselnd auf ihn und auf die verspiegelte Scheibe, doch das Verhörzimmer auf der anderen Seite des Fensters war leer. Noch stand Sam im Besucherraum vor seinen Studenten, aber das würde sich in Kürze ändern. Er blickte in das Befragungszimmer, das ihm vertraut vorkam: in seiner Mitte eine weitere Glasscheibe. Überall Trennwände. Zwischen dem
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