Das Bourne-Vermächtnis
Stunden vor dem Ungarnaufstand Tausende versammelt und ungarische Fahnen geschwenkt, aus denen sie freudig und sorgfältig Hammer und Sichel herausgeschnitten hatten, bevor sie zum Parlament gezogen waren.
Das kleine Apartment wirkte umso beengter, weil ein Konzertflügel fast die Hälfte des Wohnzimmers einnahm. Die Bücherwand gegenüber war mit Büchern, Monografien und Zeitschriften über Musikgeschichte und Musiktheorie, Biografien von Komponisten, Dirigenten und Musikern voll gestopft.
»Sie spielen Klavier?«, fragte Bourne.
»Ja«, sagte Annaka einfach.
Er setzte sich auf die Klavierbank und warf einen Blick auf das vor ihm stehende Notenheft. Ein Nocturne von Chopin, Opus 9, No. 1 in b-moll. Sie muss ziemlich gut spielen, wenn sie das meistert , dachte er.
Von dem Erkerfenster im Wohnzimmer aus waren der
Boulevard und die Häuser auf der gegenüberliegenden Seite zu sehen. Nur hinter wenigen Fenstern brannte noch Licht; leiser Jazz aus den Fünfzigern – Thelonious Monk – schwebte durch die Nacht. Ein Hund bellte
kurz und verstummte wieder. Von Zeit zu Zeit trug die leichte Brise Verkehrsgeräusche herüber.
Nachdem Annaka überall Licht gemacht hatte, ging
sie in die Küche und setzte Teewasser auf. Aus einem butterblumengelben Hängeschrank nahm sie Tassen und Untertassen, und während der Tee zog, schraubte sie eine Flasche auf und kippte in jede Tasse einen kräftigen Schuss Rum.
Sie machte den Kühlschrank auf. »Möchten Sie etwas essen? Käse, ein Wurstbrot?« Sie sprach mit ihm wie mit einem alten Freund.
»Danke, ich habe keinen Hunger.«
»Ich auch nicht.« Sie schloss seufzend die Tür. Seit sie sich dafür entschieden hatte, ihn mit in ihre Wohnung zu nehmen, schien sie ihre Abwehrhaltung aufgegeben zu haben. Von János Vadas oder Bournes vergeblicher Verfolgung des Mörders wurde nicht mehr gesprochen. Das war ihm nur recht.
Sie gab ihm seinen Tee mit Rum, sie gingen ins
Wohnzimmer und setzten sich auf das uralte Sofa.
»Mein Vater hat mit einem professionellen Vermittler namens László Molnar zusammengearbeitet«, sagte sie ohne Vorrede. »Er war derjenige, der Dr. Schiffer versteckt hatte.«
»Versteckt?« Bourne schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich nicht.«
»Dr. Schiffer war entführt worden.«
Bournes nervöse Spannung wuchs. »Von wem?«
Sie schüttelte den Kopf. »Mein Vater hat’s gewusst, aber ich nicht.« Sie runzelte die Stirn, während sie sich konzentrierte. »Deshalb hat Alexej sich ursprünglich mit ihm in Verbindung gesetzt. Er brauchte die Hilfe meines Vaters, um Dr. Schiffer zu befreien und an einen geheimen, sicheren Ort zu bringen.«
Plötzlich hatte er Mylene Dutroncs Stimme im Ohr:
»An jenem Tag hat Alex in ganz kurzer Zeit viele Anrufe bekommen und selbst viel telefoniert. Er war schrecklich nervös, und ich wusste, dass irgendein wichtiges Unternehmen in die kritische Phase getreten war. Bei dieser Gelegenheit habe ich mehrmals Dr. Schiffers Namen gehört und vermute daher, dass das Unternehmen ihm gegolten hat.«
Dies war das wichtige Unternehmen gewesen.
»Ihrem Vater ist es also gelungen, Dr. Schiffer zu befreien.«
Annaka nickte. Der Lampenschein ließ ihr Haar in
tiefem Kupferrot leuchten. Es beschattete die halbe Stirn und ihre Augen. Sie saß leicht nach vorn gebeugt mit geschlossenen Knien da und hielt ihre Teetasse mit beiden Händen umfasst, als wolle sie die Wärme des Tees in sich aufnehmen.
»Sobald mein Vater Dr. Schiffer befreit hatte, hat er ihn László Molnar übergeben. Das war eine reine Vorsichtsmaßnahme. Alexej und er hatten schreckliche Angst vor seinem Entführer.«
Auch das stimmte mit dem überein, was Mylene ihm
erzählt hatte: »An jenem Tag war er ängstlich.«
Bournes Verstand arbeitete auf Hochtouren. »Annaka, damit dies alles einen Sinn ergibt, müssen Sie verstehen, dass die Ermordung Ihres Vaters ein sorgfältig geplantes Unternehmen war. Der Attentäter war schon vor uns in der Kirche, und er hat gewusst, dass Ihr Vater kommen würde.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ihr Vater ist erschossen worden, bevor er mir erzählen konnte, was ich wissen wollte. Jemand will verhindern, dass ich Dr. Schiffer finde, und nun stellt sich immer deutlicher heraus, dass dieser Jemand der Mann sein muss, der Dr. Schiffer entführt hat und vor dem Alexej und Ihr Vater Angst hatten.«
Annaka machte große Augen. »Dann ist László Molnar jetzt möglicherweise in Gefahr.«
»Kann dieser Unbekannte von der Verbindung
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