Das Bourne-Vermächtnis
Ihres
Vaters zu Molnar gewusst haben?«
»Mein Vater war äußerst vorsichtig, sehr sicherheitsbewusst, deshalb halte ich das für unwahrscheinlich.« Ihre Augen waren dunkel vor Angst, als sie ihn jetzt ansah.
»Andererseits ist seine Abwehr in der Matthiaskirche durchbrochen worden.«
Bourne nickte zustimmend. »Wissen Sie, wo Molnar
wohnt?«
Annaka fuhr sie zu Molnars Apartment im eleganten Botschaftsviertel Rószadomb oder Rosenhügel. Budapest präsentierte sich mit einer unglaublichen Vielfalt von Gebäuden aus hellem Stein, mit ornamental geschmückten Fensterstürzen und Gesimsen, üppig verziert wie Geburtstagstorten, malerischen Pflastergassen, schmiedeeisernen Balkonen mit Blumenkästen, Kaffeehäusern, die von kunstvollen Kronleuchtern erhellt wurden, deren gelbes Licht rötliche Wandtäfelungen beleuchtete, und bunt leuchtenden Glasfenstern in unverfälschten Jugendstilmustern. Wie Paris wurde diese Stadt zuallererst durch den mächtigen Fluss definiert, der sie in zwei Teile zerschnitt, und danach durch die Brücken, die ihn überspannten. Darüber hinaus war Budapest eine Stadt aus behauenem Stein mit gotischen Türmen, breiten Treppenanlagen, angestrahlten Wällen, mit Kupfer eingedeckten Kuppeln, efeubewachsenen Mauern, monumentalen Statuen und glitzernden Mosaiken. Und wenn es regnete, wurden entlang der Donau Schirme, tausende von Schirmen, wie Segel aufgespannt.
Alles das und noch mehr bewegte Bourne zutiefst. Er hatte das Gefühl, in einer Stadt anzukommen, an die er sich aus einem Traum erinnerte – mit der für Träume charakteristischen übernatürlichen Klarheit, die von ihrer direkten Verbindung zum Unterbewusstsein herrührt.
Und trotzdem konnte er den Emotionen, die aus seinem bruchstückhaften Gedächtnis aufstiegen, keine spezifische Erinnerung abringen.
»Was haben Sie?«, fragte Annaka, als spüre sie sein Unbehagen.
»Ich bin schon einmal hier gewesen«, sagte er. »Erinnern Sie sich daran, dass ich gesagt habe, die hiesige Polizei könne unangenehm sein?«
Sie nickte. »Damit haben Sie völlig Recht. Aber soll das heißen, dass Sie nicht wissen, woher Sie das wissen?«
Er lehnte den Kopf an die Kopfstütze. »Vor vielen Jahren hatte ich einen schrecklichen Unfall. In Wirklichkeit war’s gar kein Unfall. Ich bin auf einem Boot angeschossen worden und über Bord gefallen. Schock, Blutverlust und Unterkühlung hätten mich beinahe das Leben gekostet. Ein Arzt auf der französischen Île de Port Noir hat mir die Kugel herausgeschnitten und mich gesund gepflegt. Körperlich war ich bald wieder ganz gesund, aber mein Gedächtnis war beeinträchtigt. Nach anfänglichem Gedächtnisverlust sind in einem langsamen, schmerzhaften Prozess Bruchstücke meines früheren Lebens wieder aufgetaucht. Aber ich muss mit der Wahrheit leben, dass ich mein Gedächtnis wohl niemals vollständig wieder erlangen werde.«
Annaka fuhr schweigend weiter, aber ihr Gesichtsausdruck zeigte ihm, dass seine Erzählung sie bewegte.
»Sie können sich gar nicht vorstellen, wies ist, nicht zu wissen, wer man ist«, sagte er. »Bis es einem selbst zustößt, kann man nicht wissen oder gar erklären, wie man sich dabei fühlt.«
»Wie Treibgut.«
Er sah zu ihr hinüber. »Ja.«
»Auf hoher See treibend, nirgends Land in Sicht, weder Sonne, Mond noch Sterne, nach denen man seinen Kurs setzen könnte, um wieder die Heimat zu erreichen.«
»Ganz ähnlich.« Bourne war überrascht. Er wollte sie fragen, woher sie das wisse, aber dann hielten sie bereits vor einem prächtig restaurierten Jugendstilgebäude.
Sie stiegen aus und betraten den Windfang. Als Annaka einen Knopf drückte, flammte eine schwache Glühbirne auf, deren trübes Licht den Mosaikfußboden und eine lange Reihe von Klingelknöpfen beleuchtete. Niemand reagierte, als sie bei László Molnar klingelten.
»Das braucht nichts zu bedeuten«, meinte Annaka.
»Wahrscheinlich ist er bei Dr. Schiffer.«
Bourne trat an die breite, massive Haustür mit ihrer in Hüfthöhe beginnenden geätzten Milchglasscheibe. »Das werden wir gleich feststellen.«
Er beugte sich zu dem Schloss hinunter und hatte es wenig später offen. Annaka drückte einen weiteren Knopf, der das Licht in der Eingangshalle dreißig Sekunden lang einschaltete, während sie auf der breiten Treppe zu Molnars Apartment im ersten Stock vorausging.
Mit der Wohnungstür hatte Bourne etwas mehr
Schwierigkeiten, aber dann war auch dieses Schloss geknackt. Annaka wollte
Weitere Kostenlose Bücher