Wolfsmagie (German Edition)
1
Die erste dokumentierte Sichtung des Ungeheuers von Loch Ness erfolgte 565 n. Chr. durch den hl. Columban. Die jüngste ereignete sich vergangenes Jahr.
»Es wird jedes Jahr eine Sichtung geben«, grummelte Kristin Daniels, den Blick auf ihren Laptop fixiert. »Es würde sich doch niemand mit einer Multimillionendollar-Industrie anlegen.«
Es sei denn, man war die Moderatorin der öffentlich-rechtlichen Fernsehshow Hoax Hunters – Wir decken jeden Schwindel auf . Kris beabsichtigte, sich auf Teufel komm raus mit dieser Industrie anzulegen.
Tatsächlich hatte sie vor, ihr komplett das Wasser abzugraben.
Sie kritzelte weitere Notizen auf ihren bereits vollgekritzelten gelben Schreibblock. Dies sollte ihr bislang größtes und ehrgeizigstes Projekt werden. Indem sie dem Monster von Loch Ness den Nimbus nahm, würde sie nicht nur das nationale Augenmerk auf Hoax Hunters lenken, Kris würde außerdem zum Star werden.
»Kris?«
Sie schaute auf. Ihr Boss, Theo Murdoch, stand in der Tür zu ihrem Büro. Er sah nicht glücklich aus. Aber das war bei Theo so üblich.
Öffentlich-rechtliches Fernsehen war das reinste Roulettespiel. Manchmal gewann man, manchmal verlor man. Aber immer balancierte man am Rand einer Katastrophe.
»Hallo, Theo«, sagte sie aufgeräumt. »Ich plane gerade unsere erste Show für kommendes Jahr. Du wirst sie lieben und …«
» Hoax Hunters ist gegessen.«
Kris merkte, dass ihr Mund noch immer halb offen stand, darum klappte sie ihn zu. Dann öffnete sie ihn wieder und fing an zu brabbeln. Das tat sie immer, wenn sie in Panik geriet. »Für diese Saison, klar. Aber nächstes Jahr wird fantastisch werden. Es wird unser Jahr sein, Theo. Warte nur ab.«
»Es gibt kein nächstes Jahr, Kris. Du bist raus.«
»Aber wieso?«
»Wegen der Einschaltquoten, Mädel. Deine sind zu niedrig.«
Empörung gepaart mit einem Anflug von Angst veranlasste sie zu fauchen: »Wir wussten immer, dass wir nie mit Friday Night Snapdown würden konkurrieren können.«
»Und das wollen wir auch gar nicht.« Theo atmete tief ein, trotzdem hob sich seine schmale Brust kaum. Er war spindeldürr, obwohl er futterte wie ein minderjähriger Lkw-Fahrer. Gab es überhaupt minderjährige Lkw-Fahrer? »Die Kabelsender bringen mich noch um.«
Vielleicht waren es auch nur der enorme Stress und seine Zwei-Schachteln-pro-Tag-Diät.
Während Theos Jugend, damals, als er noch Haare auf dem Kopf gehabt hatte, war PBS der Kanal für den intelligenten, anspruchsvollen Zuschauer gewesen. Heute standen diesem Zuschauer achthundert Sender zur Auswahl, und ein paar produzierten sogar das eine oder andere sehenswerte Format.
In jenen glorreichen Tagen wäre Planet Earth ein PBS- Hit geworden. Stattdessen lief die Sendung auf dem Discovery Channel. Damals wären Die Tudors – ohne die exzessiven Nacktszenen selbstverständlich – ein Produkt von Masterpiece Theatre gewesen. Jetzt war es die Showtime-Version von Historie im MTV -Kostüm.
»Wer hätte vermutet, dass das öffentlich-rechtliche Radio besser abschneidet als wir?«, bemerkte Theo.
Zur allgemeinen Überraschung war NPR im Höhenflug begriffen, während PBS gnadenlos unterging.
»Ich nicht«, räumte Kris ein. Es war wirklich eine Schande. Aber selbst wenn sie es mittels einer Kristallkugel vorhergesehen hätte, hätte sie Hoax Hunters nicht fürs Radio produzieren können. Die Stärke der Sendung lag in dem visuellen Nachweis, dass das, was so viele für wahr hielten, in Wirklichkeit eine Lüge war.
Die Idee zu Hoax Hunters – von Kris ursprünglich Hoax Haters , Schwindelhasser, getauft – war ihr nach einer angeschickerten Nacht mit ihrer besten Freundin und Zimmergenossin Lola Kablonsky gekommen. Kris hatte Lügner aus guten Gründen schon immer verabscheut, und sie war sehr geschickt darin, sie als solche zu entlarven. Fast könnte man sagen, dass sie diesbezüglich einen sechsten Sinn besaß, wäre das Vorhandensein eines sechsten Sinns nicht ebenfalls reine Erfindung.
Warum machst du aus deiner Wahrheitsbesessenheit eigentlich keine Fernsehsendung? , hatte Lola vorgeschlagen.
Angetrieben von mehreren Margaritas und ihrem Ehrgeiz hatte Kris sich gefragt: Ja, warum nicht?
Also hatte sie ihre Ersparnisse zusammengekratzt, um eine Pilotsendung zu finanzieren; all ihren Mut, ihre ganze Entschlossenheit eingesetzt, damit sie ausgestrahlt wurde. Sie würde sich von etwas derart Launenhaftem wie Einschaltquoten nicht den Schneid abkaufen lassen.
Wenn es ihr
Weitere Kostenlose Bücher