Das Britische Empire: Geschichte eines Weltreichs (German Edition)
soziale Spannungen noch zusätzlich verschärft wurden. Die Folge war schließlich 1906 die Gründung einer eigenständigen politischen Organisation: der All India Muslim League, an deren Spitze Muhammed Ali Djinnah stand und die fortan mit dem Anspruch auftrat, für die Rechte eines Viertels des indischen Volkes einzutreten.
Den Interessen der Briten kam diese Entwicklung entgegen, denn statt sich einer geschlossenen nationalen Front gegenüberzusehen, bot sie die Gelegenheit für eine Politik des ‹divide et impera›, zumal neben der Liga und dem Kongreß noch die Fürsten als Vertreter indischer Interessen auftraten. Zudem sahen sich die britischen Kolonialherren weiterhin darin bestätigt, daß die Komplexität der indischen Verhältnisse keine zuverlässige Basis für demokratische Selbstbestimmung liefere und Mitbestimmung lediglich insoweit eingeräumt werden könne, als sie den Informationsfluß zwischen Herrschern und Beherrschten fördere, ohne die Effizienz des Kolonialregimes zu beeinträchtigen.
Diese Auffassung lag auch der von den Liberalen nach ihrem Wahlsieg des Jahres 1906 in Gang gebrachten Reform der indischen Verwaltung zugrunde. Dabei hatten die gemäßigten Politiker der Kongreßpartei große Hoffnungen auf John Morley gesetzt, dem der Ruf eines entschiedenen Reformers vorausging und der jetzt das Amt des Staatssekretärs für Indien bekleidete. Doch auch Morley äußerte 1909 im britischen Oberhaus die Überzeugung, daß allein die britische Herrschaft die Existenz Indiens garantieren könne, und dementsprechend beinhalteten die von ihm und dem Vizekönig Lord Minto 1907–1909 ins Werk gesetzten Verfassungsänderungen, die sog. Morley-Minto Reform, lediglich einen kleinen weiteren Schritt in Richtung indischer Beteiligung an britischer Kolonialverwaltung:
In Zukunft sollten auch zwei Inder zu Mitgliedern des Council of India in London berufen werden und in Indien selbst ein Inder in die Machtzentrale der Verwaltung – den Exekutivrat des Vizekönigs – aufgenommen werden. Daneben wurde der Anteil der gewählten Mitglieder im zentralen Legislativrat sowie in den entsprechenden Gremien in den Provinzen vergrößert. Anschließend machte man die Teilung Bengalens, die bei den indischen Nationalisten so heftigen Widerstand ausgelöst hatte, rückgängig und verlegte den Sitz der britisch-indischen Hauptstadt aus dem unruhigen Kalkutta nach Delhi, in die alte Residenzstadt der Mogulherrscher, was zugleich als Konzession an die Moslembewegung verstanden werden konnte. Die Enttäuschung der indischen Nationalisten über diese Reformen, die weit hinter ihrer Forderung nach politischer Selbstbestimmung für Indien zurückblieben, wurde noch durch die Art und Weise verstärkt, wie britische Bürokraten diese halbherzigen Neuerungen in die Praxis umsetzten: Das Wahlrecht ließ Ausführungsbestimmungen zu, die garantierten, daß vorwiegend den Briten genehme konservative Grundherren in die Gremien gewählt wurden. Außerdem hatte man unter dem Etikett des Minderheitenschutzes der Moslem-Minorität im zentralen Legislativrat eine gesonderte Vertretung von 6 Sitzen garantiert, was als Manöver einer Politik des divide et impera ausgelegt wurde.
Trotz allem schien die britische Herrschaft in Indien am Vorabend des Ersten Weltkrieges fester gegründet als je zuvor; die Kongreßbewegung war immer noch eher das Konglomerat unterschiedlicher provinzieller Interessengruppen als eine einheitliche, schlagkräftige Nationalpartei, und Tilak, der einflußreiche Sprecher der Radikalen, saß im Zuchthaus. Doch dann wurde durch den Krieg eine neue Phase in der Geschichte der britisch-indischen Beziehungen eingeleitet. Diesen Krieg hatten die westlichen Alliierten auch als Feldzug für Freiheit, Demokratie und nationale Selbstbestimmung geführt und angesichts des bedeutenden militärischen und finanziellen Beitrags, den Indien dabei leistete, konnten Inder mit Recht die Frage stellen, wieso Präsident Wilsons berühmte Vierzehn Punkte nicht auch auf ihr Land Anwendung finden sollten. In dieser Auffassung sahen sie sich auch durch eine deutliche Aufwertung des internationalen Status Indiens bestärkt. Denn während des Krieges war es im Londoner Reichskriegskabinett durch eigene Repräsentanten vertreten, und nach dessen Ende wurde es sogar eigenständiges Mitglied des Völkerbundes, obwohl sein Vizekönig den Weisungen der britischen Regierung unterstand und den Indern bislang nicht einmal effektive politische
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