Das Britische Empire: Geschichte eines Weltreichs (German Edition)
Indienpolitik, als mit Lord Curzon ein entschieden konservativer Imperialist das Amt des Vizekönigs antrat (1898–1905). Als glänzender Verwaltungsfachmann, der von der Vision der führenden Rolle eines starken Indiens im Rahmen des Britischen Empire angetrieben war, erwarb er sich zahlreiche Verdienste um den materiellen Fortschritt des Landes. Doch gleichzeitig trug er durch seine rigorose Politik maßgeblich zur Stärkung und Radikalisierung der indischen Nationalbewegung bei, so daß für die Zukunft die Fortsetzung einer gemäßigten Reformpolitik ernsthaft in Frage gestellt war. Als besonders folgenreich erwies sich 1905 Curzons Entscheidung, um einer effizienteren Verwaltung willen die Provinz Bengalen zu teilen. In den Augen bengalischer Nationalisten, wie Banerjea, erschien dies als reine Willkürmaßnahme und rief daher ungewohnt heftige Reaktionen hervor, die mancherorts in gewalttätige Ausschreitungen mündeten, so daß 1911 die Teilung der Provinz wieder rückgängig gemacht werden mußte. Doch in der Zwischenzeit hatte der Kongreß unter dem Eindruck der Entwicklung begonnen, einen politischen Kurswechsel vorzunehmen. Ursprünglich eine eher auf Kooperation mit einer liberalen britischen Empirepolitik bedachte Honoratiorenvereinigung, öffnete er sich nun auch radikalen Tendenzen. Dabei gewannen jene nationalistischen Strömungen an Einfluß, die durch ihr religiöses Fundament in einem Land, wo nach wie vor die Religion das bestimmende Element im Leben der Majorität des Volkes bildete, die besten Voraussetzungen für den Aufbau einer Massenbewegung besaßen. Denn nicht mit der Parole für politische Mitbestimmung, wohl aber mit einer Kampagne für den Schutz der heiligen Kühe ließen sich etwa im 19. Jahrhundert in Nordindien weite Kreise der Bevölkerung für solidarische Aktionen mobilisieren. Zu dieser Zeit schwang sich der Journalist Bal Gangadhar Tilak zum einflußreichen Sprecher des radikalen Hindunationalismus auf. Unter anderem nahm er die Age of Consent Bill des Jahres 1891, mit der die Briten die Kinderehe verbieten wollten, zum Anlaß, zur Verteidigung angestammter Hindutraditionen den nationalen Freiheitskampf gegen die Briten auszurufen. Ging es bisher den Kongresspolitikern um Mitbestimmung, so forderten Tilak und sein extremistischer Anhang «swaraj», d.h. die uneingeschränkte Selbstbestimmung für ein freies Indien. Und fortan war auch die Politik der wachsenden indischen Nationalbewegung, ähnlich wie die der britischen Kolonialherrscher, durch Kursschwankungen zwischen radikalen und gemäßigten Positionen bestimmt.
Auf der einen Seite trug der zunehmende Einfluß des Hinduradikalismus auf die Kongreßbewegung nachhaltig zur Verbreiterung und Festigung ihrer Massenbasis bei; auf der anderen schwächte er zugleich ihren Anspruch, die Interessen Gesamtindiens zu repräsentieren. Denn in dem Maße, wie die Religion der Hindus zum Fundament eines indischen Nationalismus erklärt wurde, sahen sich die Moslems ausgegrenzt. Bezeichnenderweise waren bereits bei der Gründung der Kongreßbewegung nur 70 Teilnehmer Mohammedaner. Und je nachdrücklicher die indischen Nationalisten im Laufe der Zeit die Einrichtung einer indischen Demokratie forderten, umso mehr sah sich die islamische Minderheit künftig majorisiert und folglich in ihren Rechten bedroht. Dabei handelte es sich durchaus um eine substantielle Minderheit: Der Zensus von 1931 zählte neben ca. 240 Mio. Hindus immerhin 78 Mio. Moslems, die sich zudem gegenüber den Hindus durch ein stärkeres demographisches Wachstum auszeichneten. Daher lag es für die Kongreßleitung nahe, wiederholt Versuche zu unternehmen, ihren Anhang auch bei den Moslems zu stärken, und die Partei hielt deswegen gelegentlich in Moslemhochburgen, wie z.B. Lahore, ihre Jahresversammlungen ab. Doch die Kluft zwischen den beiden Religionsgemeinschaften, deren Ursprünge weit in die Vergangenheit zurückreichten, wurde eher tiefer. Die Moslems waren einst als Eroberer ins Land gekommen und hatten unter den Mogulkaisern die herrschende Schicht gestellt. Von den Briten verdrängt, hatten sie sich, im Gegensatz zu den Hindus, gegen westlich-europäische Einflüsse weitgehend abgeschottet und waren dadurch wirtschaftlich und sozial ins Hintertreffen geraten. Die von ihnen mehrheitlich bevölkerten Provinzen – Ostbengalen, Pandschab, Sind und Kaschmir – galten als die Armenhäuser Indiens, so daß die historischen und religiösen Gegensätze durch
Weitere Kostenlose Bücher