Das Britische Empire: Geschichte eines Weltreichs (German Edition)
Abschreckung rechtfertigte, zwiespältig. Einerseits verurteilten selbst entschiedene Imperialisten wie Winston Churchill sie mit Nachdruck im Londoner Parlament, und Dyers Karriere war zu Ende, obwohl er nie verurteilt wurde. Andererseits fand er in der englischen Öffentlichkeit durchaus Unterstützung, und ein Spendenaufruf der Morning Post erbrachte 26.000 Pfund für einen Fonds zugunsten Dyers. In Indien wiederum verstärkten dergleichen Sympathiebekundungen die Reaktion, und fortan sahen sich all jene Kritiker bestätigt, die alle Ansätze für eine britische Reformpolitik als heuchlerische Halbherzigkeiten anprangerten. Als ein Jahr später ein ebenso ausführlicher wie gründlicher Bericht einer indischen Untersuchungskommission vorlag, besaßen von nun an die Inder mit Amritsar einen ähnlich symbolträchtigen Ort der politischen Erinnerung, wie ihn einst die Engländer mit der ‹dark hole of Calcutta› für sich in Anspruch genommen hatten. Von jetzt an schlug der Kongreß einen scharfen antibritischen Kurs ein, und Gandhi organisierte seine erste große Protestkampagne.
Als Satyagraha – wörtlich übersetzt: ‹Festhalten an der Wahrheit› – bezeichnete er seine Feldzüge des gewaltfreien Widerstands gegen offenkundiges Unrecht, wobei es sich hierbei um mehr handelte als bloßen Ungehorsam oder passiven Widerstand. Gandhi ging es bei diesen Aktionen um die Darstellung und Rechtfertigung der Wahrheit durch demonstratives Selbstmartyrium. Ungerechte Gesetze müssen gebrochen werden, und die Gesetzesbrecher müssen damit verbundene Strafen akzeptieren bzw. dadurch provozierte Gewalt ohne Widerstand über sich ergehen lassen. So soll staatliche Gewalt ins Unrecht gesetzt und letztlich verunsichert, gleichzeitig die Massen dadurch zur Solidarität motiviert werden. Erfolg verspricht eine derartige Strategie, wenn sie sich nicht einem totalitären monolithischen Regime gegenübersieht, sondern gegen einen demokratischen Staat wie Großbritannien gerichtet ist, der sich zudem den Prinzipien christlicher Moral verpflichtet sieht. Anders gesagt: Gandhi setzte auf das Gewissen der Machthaber, auf deren Skrupel. Und in der Tat bestätigen bis heute all jene diese Strategie, die meinen, die wahre Ursache für den Untergang des Empire darin gefunden zu haben, daß England im Laufe des 20. Jahrhunderts die Bereitschaft abhanden gekommen sei, mit der rücksichtslosen Entschlossenheit eines Oberst Dyer sein Empire um jeden Preis zu verteidigen.[ 8 ]
Allerdings ließ sich das Prinzip des gewaltlosen Widerstands in der Praxis nur unvollkommen realisieren. Wiederholt sah sich Gandhi gezwungen, die von ihm ausgerufenen ‹Feldzüge› abzubrechen, weil passiver Widerstand in aktive Gewalt umschlug und er sich dadurch von seinen Anhängern desavouiert und seine Botschaft in Mißkredit gebracht sah. Gleichzeitig rückten radikale Extremisten ihn nicht selten wegen seiner Strategie der Gewaltlosigkeit in die Nähe einer geheimen Komplizen schaft mit den Engländern. Doch unbestreitbar war Gandhis Wirkung auf die indischen Massen, die ihm den für Weise und Heilige reservierten Ehrentitel Mahatma’ («der groß ist») verliehen. Nicht als Politiker, sondern als Prophet erreichte er das einfache indische Volk – nicht mit dem Text einer politischen Botschaft, sondern mit einer Politik der Geste, der symbolträchtigen Handlung; so, wenn er sich durch freiwillige Verunreinigung wie das Säubern von Latrinen für die ‹Unberührbaren› einsetzte, durch den Gebrauch des alten indischen Spinnrades und das Tragen handgewebten Tuches gegen britische Textilimporte protestierte oder durch öffentlichen Hungerstreik bestimmten Forderungen Nachdruck zu verleihen suchte. Besonders wirkungsvoll war etwa sein Angriff auf das Salzmonopol der Regierung, unter dem die breite Masse der Bevölkerung zu leiden hatte: Nach einem feierlichen, wohlorganisierten langen Marsch zur Küste unter der Begleitung ausgewählter Anhänger verstieß Ghandi demonstrativ gegen das Gesetz, als er feierlich ein Salzkorn auflas. Und als Tausende ihm nacheiferten, reagierten die durch solch eine Resonanz überraschten Behörden hilflos, denn die Gefängnisse waren alsbald überfüllt.
Gandhi kämpfte als Prophet und Moralist in erster Linie für eine religiöse und moralische Erneuerung eines freien Indien. Dieses Indien sollte seiner Vorstellung nach kein moderner Industriestaat europäischen Maßstabs sein, sondern er verkündete seine Vision einer
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