Das Britische Empire: Geschichte eines Weltreichs (German Edition)
Mai 1944 aus gesundheitlichen Gründen freigelassen, wohl auch, um künftige Verhandlungen nicht zusätzlich zu belasten. Denn obwohl Großbritannien den Krieg abermals als Sieger beendete, war das Ende der britischen Herrschaft über Indien nur noch eine Frage der Zeit. Zwar wurde eine kleine Zahl unerschütterlicher Imperialisten mit Churchill an der Spitze nicht müde, darauf hinzuweisen, daß ein Rückzug aus Indien der Anfang vom Ende des Empire sein werde, doch die Mehrzahl der britischen Politiker war entschlossen, so bald wie möglich die Kolonialherrschaft durch den Dominionstatus zu ersetzen. Dies galt erst recht, nachdem 1945 die Labour Party mit einem eindrucksvollen Wahlsieg der Regierung Churchill ein Ende bereitet hatte. Am 20. Februar erging die offizielle Erklärung Londons, es sei die feste Absicht der britischen Regierung, alle notwendigen Schritte für eine Machtübergabe an eine verantwortliche indische Regierung bis zum Juni des folgenden Jahres einzuleiten.
Für diesen Entschluß sprachen vor allem veränderte Tatsachen in einer veränderten Gesamtsituation. Zum einen rentierte sich die britische Herrschaft über Indien nicht länger; der einstige Gläubiger war zum Schuldner geworden. Vor allem weil seit den 20er Jahren Indien nicht länger die gesamten Kosten für die britisch-indische Armee tragen mußte und von 1939 an die Briten in vollem Umfang für deren Ausrüstung und Unterhalt aufkamen, hatte sich die Verteilung der Gewichte in den finanziellen Beziehungen beider Länder in ihr Gegenteil verkehrt. 1945 verfügte Indien in London über ein Guthaben von 1,3 Milliarden Pfund Sterling. Gleichzeitig sanken die britischen Exporte nach Indien dramatisch; bestritten sie 1914 noch ⅔ der indischen Einfuhren, reduzierte sich dieser Anteil 1940 auf 8 %. Schließlich lag es auf der Hand, daß die Briten nicht mehr über ausreichende Ressourcen verfügten, um etwa in künftigen Krisensituationen ihre Herrschaft im Lande mit Gewalt aufrechterhalten zu können. Nach den Erfahrungen des Krieges betrachtete die britische Regierung die Indische Armee nicht länger als ihr zuverlässiges Machtinstrument zur Unterdrückung eines eventuellen Aufstandes. Die wachsende Beteiligung von Indern an der Verwaltung reduzierte zudem die Chancen von britischen Karrieren im Kolonialdienst. Während über lange Zeit der lndian Civil Service englischen Universitätsabsolventen vorbehalten geblieben war, zählte er 1947 neben 429 britischen nun 510 Beamte indischer Herkunft. «Während die Briten rechtlich und moralisch immer noch für alles, was in Indien geschieht, verantwortlich sind – resümierte Vizekönig Lord Wavell zum Jahresausgang 1946 –, haben wir tatsächlich alle Macht verloren, um den Lauf der Dinge zu kontrollieren; lediglich das Gewicht unseres einstigen Prestiges hält uns noch in unserer Position.»[ 11 ] Es war keine spektakuläre militärische Niederlage, wohl aber eine fortschreitende Erosion der Macht, die den Rückzug der Briten aus Indien zur politischen Notwendigkeit werden ließ. Allerdings legte auch die Labour-Regierung unter der Führung Clement Attlees Wert darauf, diesen Rückzug geordnet anzutreten und ohne Verluste eine sichere Auffangstellung zu erreichen. Keinesfalls sollte der Eindruck entstehen, man kapituliere im Angesicht einer drohenden Niederlage und gebe damit das Signal zu einer allgemeinen Auflösung des Empire.
Doch die praktische Umsetzung dieses Vorhabens ließ sich nicht ohne weiteres realisieren. Die Situation war kompliziert, da sich die britische Kolonialmacht nicht allein der Forderung einer geschlossenen indischen Nationalbewegung nach politischer Selbstbestimmung gegenübersah. Jetzt, wo die Entlassung in den Dominion-Status nicht mehr strittig war, ging es vor allem darum, welche Form der neue indische Staat annehmen werde, bzw. ob nicht sogar mindestens zwei neue Staaten an die Stelle der britischen Kolonie treten sollten. Denn während die indische Kongreßpartei nach wie vor einen zentralistisch organisierten indischen Nationalstaat als ihr Ziel proklamierte, bestanden die Moslems anfangs auf weitgehenden Sonderrechten, um nicht durch die Hindus majorisiert zu werden und um schließlich, auf den Status einer eigenen Nationalität pochend, einen eigenen Staat für sich zu beanspruchen. Doch angesichts der Gemengelage der beiden Religionsgemeinschaften beinhaltete diese Forderung ein erhebliches Konfliktpotential, denn selbst dort, wo die Moslems
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