Das Buch Der 1000 Wunder
deren letzte Nacht, die vom 7. zum 8. Mai, durch das dumpfe Grollen und Poltern des Bergs erfüllt wurde, aus dessen Gipfel zuweilen feurige Blitze herausfuhren; heftige Wolkenbrüche fanden am Mont Pelée und dessen Umgebung statt, neue Schlammströme rasten an seinen Hängen herunter und zerstörten einen Teil von Le Précheur.
Ein klarer blauer Himmel jedoch strahlte am nächsten Morgen, am Himmelfahrtstag, dem 8. Mai 1902, über St. Pierre. Die Schrecken der 327 vorhergegangenen Nacht waren wie weggewischt. Nur eine weiße Dampfwolke von vollendet regelmäßiger Gestalt stieg aus dem Scheitel des Unglücksbergs hoch in die Lüfte auf und erinnerte noch an die jüngsten angsterfüllten Stunden. Da sollte sich des Vormittags um 8 Uhr 2 Minuten etwas unerhört Gräßliches ereignen!
Von den Bewohnern von St. Pierre haben nur zwei den Untergang ihrer Stadt überlebt, ein im Gefängnis befindlicher Neger Louis Cyparis und der Schuhmacher Léon Compère. Beide befanden sich im Augenblick der Katastrophe an für die Beobachtung des Vorgangs wenig günstig gelegenen Orten, der eine in seiner Zelle, der andere in seiner Wohnung, und über den allgemeinen Verlauf des Ereignisses haben sie nichts Wertvolles berichten können. Das, was wir davon wissen, beruht lediglich auf den Erzählungen der wenigen Augenzeugen, die sich gerade außerhalb der von der Glutwolke betroffenen Zone befunden haben, oder einiger Überlebender von der Besatzung der bei diesem Anlaß vernichteten Schiffe auf der Reede von St. Pierre. Alles Lebendige, das sich innerhalb des von der Glutwolke berührten Gebiets aufhielt, ist, bis auf die zwei eben genannten Personen, zugrunde gegangen!
Aus den Schilderungen der vorerwähnten Augenzeugen hat der französische Gelehrte Professor Lacroix , den seine Regierung zwecks genauer Untersuchung der Vorgänge alsbald nach Martinique entsandt hatte, den Verlauf der Dinge folgendermaßen feststellen können:
Unter furchtbaren Detonationen ist um die besagte Zeit urplötzlich eine gewaltige, wie wellenartig sich fortbewegende Wolke aus dem Gipfel des Vulkans hervorgeschossen, durchleuchtet von großartigen Blitzen. Mit rasender Geschwindigkeit wälzte sie sich dann auf dem Erdboden dahin, bedeckte St. Pierre und gelangte erst bei der weiter südlich gelegenen Ortschaft Le Carbet zum Stehen. Vom Vulkan bis nach St. Pierre hin hat die Wolke nicht einmal eine Minute Zeit gebraucht, und mit einer Schnelligkeit von mehr als 150 Metern in der Sekunde stürzte sie sich auf die unglückliche Stadt. Ein ebenso rasch entstandener Gegenwind hemmte bei Le Carbet die weitere Fortbewegung der Glutwolke und trieb sie auf St. Pierre zurück, um hier die Flammen der in Brand geratenen Stadt noch um so mehr zu entfachen und das Unheil noch zu vergrößern.
Als die Wolke sich etwas verzogen hatte, und es wieder heller geworden war, bot sich den Augen der Verschontgebliebenen ein jammervoller Anblick dar: die schöne Stadt, die sie noch einige kurze Minuten vorher in ihrem Glanz erschaut hatten, war in einen brennenden und rauchenden Trümmerhaufen verwandelt worden! Nichts Lebendiges war mehr darin zu erblicken. An Stelle 328 der vielen, festlich geschmückten Menschen, die noch einige Augenblicke vorher sich anschickten, das Fest der Himmelfahrt des Heilands in freudiger Stimmung zu begehen, in um so freudigerer, als die unheimlichen Gewalten des Bergs in der Nacht zuvor ihre Kräfte erschöpft zu haben schienen, lagen tausende verkohlter und versengter Leichen umher, und Totenstille herrschte in dem sonst so rührigen und lauten St. Pierre.
Alles in dem weiten Umkreis von 58 Quadratkilometern war von einem dichten Leichentuch grauer Asche bedeckt; in den Straßen und Ruinen der Stadt dampften heiße Schlammmassen, untermischt mit größeren und kleineren Gesteinsbrocken, welche die Glutwolke im Vorüberziehen daraus ausgeschüttet hatte. Das Meer war in heftiger Aufwallung, und eine große barometrische Depression war entstanden.
Mit einer Katze, welche die Maus beschleicht, hat man die Glutwolke des Mont Pelée verglichen, der so innerhalb weniger Minuten 28 000 Lebendige zum Opfer gefallen sind, eine menschliche Hekatombe, sagt Lacroix, wie sie wohl nur selten in so kurzer Zeit zustande gekommen sein dürfte.
Die Temperatur der Glutwolken ist eine sehr hohe gewesen; nach den auf sehr sorgfältigen Beobachtungen fußenden Berechnungen von Lacroix betrug sie in dem Augenblick, in dem die Glutwolken aus dem Berg
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