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Das Buch der Illusionen

Das Buch der Illusionen

Titel: Das Buch der Illusionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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simplen Fall von «Pech gehabt». Verstehen Sie mich jetzt? Ich sage den Toten, dass sie umsonst gestorben sind.
    Er verstand. Ich hatte gar nichts Konkretes gesagt, aber dieser Arzt besaß einen feinen, durchdringenden Verstand und war in der Lage, sich den Rest hinzuzudenken. J. M. Singh, Absolvent des Royal College of Physicians, Internist am Georgetown University Hospital, ein Mann mit präzisem britischem Akzent und vorzeitigem Haarausfall, verstand jetzt auf einmal, was ich ihm in dieser kleinen Kabine mit dem Neonlicht und den metallisch glänzenden Oberflächen zu erzählen versucht hatte. Ich saß noch auf dem Untersuchungstisch und knöpfte mir das Hemd zu, den Blick auf den Boden gerichtet (ich wollte ihn nicht ansehen, wollte die peinliche Situation vermeiden, in Tränen auszubrechen), als er mir nach einer, wie mir schien, langen und verlegenen Pause eine Hand auf die Schulter legte. Entschuldigen Sie, sagte er. Das tut mir wirklich sehr leid.
    Es war das erste Mal seit Monaten, dass jemand mich berührte, und ich fand es beunruhigend, ja beinahe ekelerregend, zum Gegenstand solchen Mitgefühls gemacht zu werden. Ich will Ihr Mitleid nicht, Doktor, sagte ich. Ich will nur diese Pillen.
    Er wich mit einer leichten Grimasse zurück und setzte sich auf einen Hocker in der Ecke. Während ich mir das Hemd in die Hose stopfte, sah ich, wie er einen Rezeptblock aus der Tasche seines weißen Kittels zog. Ich will Ihnen den Gefallen tun, sagte er, aber bevor Sie gehen, möchte ich Sie bitten, Ihre Entscheidung noch einmal zu überdenken. Ich glaube, ich kann mir ungefähr vorstellen, was Sie durchgemacht haben, Mr. Zimmer, aber ich habe Bedenken, Sie in eine Lage zu bringen, die Ihnen so große Qualen bereiten könnte. Es gibt auch andere Reisemöglichkeiten. Vielleicht wäre es besser, Flugzeuge fürs Erste zu meiden.
    Das habe ich mir auch schon überlegt, sagte ich, und mich dagegen entschlossen. Die Entfernungen sind einfach zu groß. Mein nächstes Ziel ist Berkeley in Kalifornien, und anschließend muss ich nach London und Paris. Der Zug an die Westküste braucht drei Tage. Die Rückfahrt dauert noch einmal so lange; dazu kommen weitere zehn Tage für die Fahrt über den Atlantik und wieder zurück, und schon haben wir mindestens sechzehn verlorene Tage. Was soll ich mit dieser ganzen Zeit anfangen? Aus dem Fenster starren und die Landschaft genießen?
    Ein wenig innehalten könnte nichts schaden. Vielleicht würde es Ihnen helfen, den Stress ein wenig abzubauen.
    Aber Stress ist genau das, was ich brauche. Wenn ich jetzt nachlasse, fliege ich auseinander. Ich würde in alle Himmelsrichtungen zerstieben und könnte mich nie wieder zusammensetzen.
    Ich sprach diese Sätze mit solchem Nachdruck, in meiner Stimme schwangen solcher Ernst und solche Verrückt-heit mit, dass sich der Arzt fast zu einem Lächeln hinreißen ließ - jedenfalls schien er mir eines zu unterdrücken. Na, das wollen wir natürlich nicht, sagte er. Wenn Sie so sehr aufs Fliegen aus sind, dann tun Sie's. Aber wir wollen immerhin dafür sorgen, dass Sie's nur in eine Richtung tun. Und mit dieser schnurrigen Bemerkung nahm er einen Stift aus der Tasche und kritzelte eine Reihe unleserlicher Zeichen auf den Block. Bitte sehr, sagte er, riss das oberste Blatt ab und drückte es mir in die Hand. Ihr Ticket für Air Xanax.
    Nie davon gehört.
    Xanax. Ein starkes, höchst gefährliches Medikament. Auch wenn Sie es strikt nach Anweisung nehmen, Mr. Zimmer, macht es Sie zum Zombie, zu einem Wesen ohne Ichbewusstsein, zu einem gefühllosen Klumpen Fleisch. Mit dem Zeug können Sie über ganze Kontinente fliegen, und ich garantiere Ihnen, Sie werden nicht einmal mitbekommen, dass Sie überhaupt abgehoben haben.
    Am Nachmittag des folgenden Tages war ich schon in Kalifornien. Keine vierundzwanzig Stunden danach ging ich ins Pacific Film Archive und sah mir in einem separaten Vorführraum die nächsten zwei Hector-Mann-Komödien an. Wilder Tango erwies sich als die verrückteste, überschäumendste seiner Produktionen; Heim und Herd als die sorgfältigste. Ich verbrachte mehr als zwei Wochen mit diesen Filmen, stellte mich jeden Morgen um Punkt zehn in dem Gebäude ein, und wenn es geschlossen hatte (Weihnachten und Neujahr), arbeitete ich im Hotel weiter, las Bücher, ordnete meine Notizen und bereitete mich auf die nächste Etappe meiner Reise vor. Am 7. Januar 1986 schluckte ich wieder ein paar von Dr. Singhs Zauberpillen und flog von San Francisco

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