Das Buch der Illusionen
nach London – sechstausend Meilen nonstop mit dem Katatonie-Express. Diesmal war eine größere Dosis erforderlich, aber ich machte mir Sorgen, dass auch die nicht reichen würde, und so nahm ich kurz vorm Besteigen des Flugzeugs noch eine Pille zusätzlich. Gewiss war es dumm von mir, mich nicht an die Anweisung des Arztes zu halten, aber die Vorstellung, womöglich mitten im Flug aufzuwachen, erschreckte mich dermaßen, dass ich mich beinahe für immer in Schlaf versetzte. Ein Stempel in meinem alten Pass beweist, dass ich am 8. Januar nach Großbritannien eingereist bin, aber ich habe keine Erinnerung an die Landung, keine Erinnerung an die Zollkontrolle, keine Erinnerung daran, wie ich in mein Hotel gelangt bin. Am Morgen des 9. Januar erwachte ich in einem fremden Bett, und erst da fing mein Leben wieder an. So gründlich hatte ich mich noch nie zuvor aus den Augen verloren.
Es waren noch vier Filme übrig - Cowboys und Ein Niemand in London, Hampelmänner und Der Requisiteur in Paris -, und mir war klar, eine zweite Chance, sie zu sehen, würde ich nicht bekommen. Die amerikanischen Archive konnte ich, falls nötig, jederzeit wieder besuchen, aber eine Rückkehr zum BFI und zur Cinémathèque war ausgeschlossen. Ich hatte es geschafft, mich nach Europa zu befördern, aber ein zweiter Versuch, das Unmögliche zu vollbringen, würde über meine Kräfte gehen. Aus diesem Grund blieb ich viel länger als nötig in London und Paris -insgesamt fast sieben Wochen, den halben Winter lang vergraben wie ein wahnsinniges, im Boden lebendes Tier. Bis dahin war ich gründlich und gewissenhaft gewesen, jetzt aber steigerte sich das Projekt zu nie da gewesener Intensität, zu einer Zielstrebigkeit, die an Besessenheit grenzte.
Nach außen hin gab ich vor, die Filme Hector Manns studieren und mir einverleiben zu wollen, in Wahrheit aber brachte ich mir bei, mich zu konzentrieren, an einen und nur einen Gegenstand zu denken. Es war das Leben eines Monomanen, aber an jedem anderen Leben wäre ich zerbrochen. Als ich im Februar schließlich nach Washington zurückkehrte, schlief ich die Nachwirkungen des Xanax in einem Fughafenhotel aus, holte am nächsten Morgen mein Auto vom Langzeitparkplatz ab und fuhr nach New York. Nach Vermont konnte ich noch nicht zurück. Wenn ich das Buch wirklich schreiben wollte, brauchte ich einen Ort, an dem ich mich verkriechen konnte, und New York schien mir von allen Städten der Welt diejenige zu sein, die mir am wenigsten auf die Nerven gehen würde. Fünf Tage lang suchte ich nach einer Wohnung in Manhattan, fand aber nichts. Die Wall Street hatte damals Hochkonjunktur, bis zum Crash von '87 sollte es noch zwanzig Monate dauern, und Wohnraum zur Miete oder Untermiete war sehr knapp. Schließlich fuhr ich über die Brücke nach Brooklyn Heights und nahm die erstbeste Wohnung, die ich mir ansah - ein kleines Apartment in der Pierrepont Street, das gerade an diesem Morgen frei geworden war. Es war teuer, schmuddelig und schlecht geschnitten, aber ich pries mich glücklich, es ergattert zu haben. Ich kaufte eine Matratze für das eine Zimmer, Stuhl und Schreibtisch für das andere, und dann zog ich ein. Der Mietvertrag lief über ein Jahr. Er begann am 1. März, und genau an diesem Tag begann ich das Buch zu schreiben.
2
Vor dem Körper ist das Gesicht, und vor dem Gesicht ist die schmale schwarze Linie zwischen Hectors Nase und Oberlippe. Ein zuckendes Angstfädchen, ein metaphysisches Springseil, ein tänzelnder Verwirrungsindikator; der Schnurrbart als Seismograph von Hectors inneren Zuständen, der den Zuschauer nicht nur zum Lachen bringt, sondern ihm auch sagt, was Hector denkt, ihm direkten Eintritt in die Maschinerie seiner Gedanken verschafft. Auch anderes ist daran beteiligt - die Augen, der Mund, das präzis inszenierte Taumeln und Stolpern -, aber der Schnurrbart ist das wichtigste Werkzeug der Kommunikation, und mag auch seine Sprache keine Wörter kennen, so ist doch sein Wackeln und Zucken so klar und verständlich wie eine Mitteilung in Morsezeichen.
Nichts davon wäre möglich ohne die Mitwirkung der Kamera. Die Vertrautheit mit dem sprechenden Schnurrbart ist ein Werk des Objektivs. In jedem von Hectors Filmen gibt es plötzliche Änderungen der Perspektive, wird von einer Totalen oder Halbtotalen unvermittelt auf eine Nahaufnahme umgeschnitten. Hectors Gesicht füllt die ganze Leinwand aus, und wenn auf diese Weise jeglicher Bezug zur Umgebung eliminiert ist, wird der
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