Das Buch der Illusionen
Schnurrbart zum Mittelpunkt der Welt. Er gerät in Bewegung, und da Hector die Fähigkeit besitzt, alle anderen Gesichtsmuskeln unter Kontrolle zu behalten, scheint der Schnurrbart sich selbstständig zu bewegen, wie ein kleines Tier, das über eigenes Bewusstsein und Willen verfügt. Die Mundwinkel krümmen sich ein wenig, die Nasenflügel weiten sich kaum merklich, ansonsten aber bleibt das Gesicht, während der Schnurrbart seine Kapriolen macht, im Wesentlichen unbewegt, und in dieser Unbewegtheit sieht man sich selbst wie in einem Spiegel, denn in diesen Augenblicken ist Hector ganz und gar und am überzeugendsten menschlich, ein Abbild dessen, was wir alle sind, wenn wir uns allein mit unserem Innern befassen. Diese Großaufnahmen sind den entscheidenden Stellen der Geschichte vorbehalten, den Momenten größter Spannung oder Überraschung, und nie dauern sie länger als vier oder fünf Sekunden. Wenn sie erscheinen, bleibt alles andere stehen. Der Schnurrbart beginnt seinen Monolog, und für diese wenigen kostbaren Sekunden muss die Handlung dem Denken weichen. Wir können Hectors Gedanken lesen, als ob sie ausgeschrieben auf der Leinwand stünden, und bevor diese Schrift wieder verschwindet, ist sie nicht weniger sichtbar als ein Gebäude, ein Klavier oder eine Torte im Gesicht.
In Bewegung ist der Schnurrbart ein Werkzeug, das die Gedanken aller Menschen auszudrücken vermag. In Ruhe ist er wenig mehr als ein Ornament. Er bezeichnet Hectors Platz in der Welt, benennt den Charakter, den er repräsentieren soll, und erklärt, wen er in den Augen der anderen darstellt - aber er gehört nur einem einzigen Menschen, und da es sich um einen lächerlich dünnen und schmierigen kleinen Schnurrbart handelt, kann nie ein Zweifel daran aufkommen, was für ein Mensch das ist. Es ist der südamerikanische Dandy schlechthin, der Latin Lover, der dunkle Schurke mit dem heißen Blut. Zusammen mit dem weißen Anzug ergibt dies eine unverkennbare Mischung aus Eleganz und Anstand. Das alles sagen die Bilder. Ihr Sinn wird mit einem einzigen Blick erfasst, und da in diesem mit ständig fehlenden Kanaldeckeln und explodierenden Zigarren präparierten Universum eine Sache stets zwangsläufig auf die andere folgt, weiß man, sobald man einen Mann im weißen Anzug durch die Straßen spazieren sieht, dass dieser Anzug ihn in Schwierigkeiten bringen wird.
Nach dem Schnurrbart ist der Anzug das zweitwichtigste Element in Hectors Repertoire. Der Schnurrbart ist die Verbindung zum inneren Ich, ein Metonym für Triebe, Überlegungen und geistige Unwetter. Der Anzug verkörpert Hectors Verhältnis zur Gesellschaft, und mit dem blitzblanken Weiß, das sich strahlend vom Grau und Schwarz seiner Umgebung abhebt, zieht er alle Blicke auf sich. Hector trägt diesen Anzug in jedem seiner Filme, und in jedem Film gibt es mindestens eine längere komische Szene, die sich um die Gefahren dreht, in die er bei dem Versuch gerät, den Anzug sauber zu halten. Schlamm und Kurbelgehäuseöl, Spaghettisoße und Melasse, Kaminruß und spritzende Pfützen - irgendwann droht jede dunkle Flüssigkeit und überhaupt jede dunkle Materie die makellose Würde von Hectors Anzug zu besudeln. Dieser Anzug ist sein stolzester Besitz, und er trägt ihn mit der gediegenen, kosmopolitischen Haltung eines Mannes, der die Welt zu beeindrucken gedenkt. Jeden Morgen steigt er in ihn hinein wie ein Ritter in seine Rüstung, wappnet sich für die Schlachten, die die Gesellschaft an diesem Tag für ihn bereithalten mag, und niemals kommt er auf die Idee, dass er damit genau das Gegenteil von dem erreicht, was er eigentlich vorhat. Er schützt sich nicht vor möglichen Schlägen, sondern macht sich zur Zielscheibe, zum Brennpunkt jeglichen Missgeschicks, das sich im Umkreis von hundert Metern um seine Person ereignen mag. Der weiße Anzug ist ein Zeichen für Hectors Verletzlichkeit und verleiht den Streichen, die die Welt ihm spielt, ein gewisses Pathos. Hartnäckig in seiner Eleganz, geklammert an die alte Vorstellung, der Anzug mache ihn zu einer überaus attraktiven und begehrenswerten Erscheinung, erhebt Hector seine Eitelkeit zu einer Sache, mit der das Publikum sympathisieren kann. Sieht man ihn in Doppelt oder nichts imaginäre Stäubchen von seinem Jackett schnippen, während er an der Haustür seiner Freundin klingelt, dann ist das keine Demonstration von Eigenliebe mehr: Es sind die Qualen der Befangenheit. Damit zieht er das Publikum auf seine Seite, und wenn
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