Das Buch der Lebenskunst
- und arbeite an deinen Schwächen. Aber verbeiße dich nicht in sie. Lass sie los. Wenn Gott dir vergibt, darfst auch du dir vergeben. Sei barmherzig mit dir selber.
EIN SANFTER WEG
Ich kann nicht beten, ohne meiner eigenen Wirklichkeit zu begegnen.
Im Gebet begegne ich meinen Schattenseiten, meiner verdrängten Wut, meiner Enttäuschung, den Verletzungen meiner Lebensgeschichte, meiner Angst, meiner Unzufriedenheit, meiner Traurigkeit, meiner Einsamkeit. Beten heißt für mich, meine Wahrheit Gott hinzuhalten.
Nur wenn ich mich so hinhalte, wie ich bin, werde ich im Gebet inneren Frieden und Ruhe erfahren. Was ich Gott vorenthalte, das fehlt mir an der eigenen Lebendigkeit. Ich werde ihn nicht erfahren können, wenn ich ihm nur meine frommen Seiten hinhalte. Wenn mir jemand erzählt, dass er Gott nicht spürt, frage ich ihn immer: Spürst du dich denn selber? Du kannst ihn gar nicht spüren, wenn du dich selbst nicht spürst. Halte auch deine dunklen Seiten Gott hin, dann wird es zwischen dir und Gott hin-und herfließen.
Wenn ich alles, was in mir ist, Gott hinhalte, darf ich erfahren, dass ich bedingungslos geliebt bin. Ich erfahre eine heilende und liebende Gegenwart, die mich einhüllt. Gott beurteilt und verurteilt mich nicht und befreit mich so von meiner eigenen urteilenden Instanz in mir, von dem überkritischen Über-Ich, das alles in mir bewertet. Beten heißt, alles Bewerten aufzugeben und kindlich zu vertrauen. Ich weiß mich angenommen. Das hilft mir, mich selbst anzunehmen und lieben zu lernen. Wenn ich mich ganz und gar geliebt weiß, dann bin ich in meiner Zerrissenheit schon heil und ganz. Seine Liebe hält das Zerrissene und Widerstrebende zusammen. Wenn ich Gottes Liebe in meine Wunden hineinhalte, anstatt selbst immer wieder neu in meinen Wunden zu wühlen, dann können die Wunden ausheilen. Heute gibt es die Tendenz, sehr aggressiv mit seinen Wunden umzugehen, sie alle zu analysieren, sie aufzudecken, sie zu bearbeiten. Das Gebet ist ein sanfterer Weg. Ich schaue meine Wunden an, ohne sie aufzukratzen. Ich vertraue darauf, dass eine heilende Liebe meine Wunden berührt und durchdringt. Dann erfahre ich mich mit meinen Wunden heil und ganz.
ES LOHNT SICH, DIE TAGE ZU LEBEN
NIMM DIR ZEIT - GIB DEINER SEELE ATEM
ALLES HAT SEINE ZEIT
„Ihr habt die Uhren, wir haben die Zeit.“ Ein alter Indianer soll dies einem forschen weißen Geschäftsmann zur Antwort gegeben haben.
Hinter dieser Antwort steckt eine tiefe Einsicht darüber, wie wir mit den Anforderungen und den Möglichkeiten des Lebens umgehen. Und es wird auch deutlich, wie sehr ein mechanisches und ein spirituelles Verständnis von Zeit gegeneinander stehen.
Die Griechen unterscheiden zwischen chronos und kairos. Chronos ist die messbare Zeit. Nicht umsonst sprechen wir vom Chronometer, vom Zeitmesser. Im Westen unterwerfen wir uns der messbaren Zeit. Wir machen minutengenaue Termine aus, schauen ständig auf die Uhr, ob der andere seinen Termin auch pünktlich wahrnimmt, ob wir selbst auch zur vereinbarten Zeit eintreffen. Alles muss in einer ganz bestimmten Zeit bewältigt werden. Die messbare Zeit zwingt uns, unser Leben in ein enges Korsett zu zwängen. Der Gott des Chronos ist ein Tyrann.
Die Indianer huldigen eher dem Gott Kairos. Kairos ist der günstige Augenblick, die willkommene Zeit. Während chronos die quantitative Zeit meint, bezeichnet kairos eine besondere Qualität der Zeit. Es ist der zu ergreifende Augenblick, auf den ich mich einlasse, in dem ich ganz da bin. Die Indianer verstehen unter Zeit offensichtlich den rechten Augenblick. Sie lassen sich Zeit. Sie genießen die Zeit. Sie erfahren die Zeit. Wer sich dem Diktat des Chronos unterwirft, der erfährt die Zeit nicht als etwas Willkommenes und Wohltuendes, sondern als Tyrannei.
Die Indianer nehmen die Zeit wahr. Wenn ich ganz im Augenblick bin, dann erfahre ich die Zeit. Dann steht die Zeit manchmal still. Und ich erfahre, dass jetzt der rechte Zeitpunkt ist, entweder innezuhalten oder etwas zu tun, etwas wachsen zu lassen oder etwas zu entscheiden. Von dieser Zeit sagt der alttestamentliche Weise, der im Buch Kohelet die Weisheit Grie chenlands mit der Weisheit Israels verbunden hat: „Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit: eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben, eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit zum Abernten der Pflanzen, eine Zeit zum Töten und eine Zeit zum Heilen, eine Zeit zum Niederreißen und eine Zeit
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