Das Buch der Lebenskunst
eine besondere und unzerstörbare Qualität von Leben, das uns niemand rauben kann: Nichts anderes ist ewiges Leben. Ewiges Leben ist erfahrbar, im Alltag und im täglichen Umgang mit den Menschen: Nicht die Erwartungen und Urteile anderer sind entscheidend, sondern eine Beziehung zu einer transzendenten Wirklichkeit, die die Bibel als Liebe beschreibt und die die Kraft hat, unser Leben zu verwandeln, wenn wir uns darauf ein lassen. Biblische Bilder, die von einem solchen Leben in Fülle, von neuer Weite und Freiheit sprechen, sind ganz konkret und unmittelbar einsichtig: Vom neuen Geschmack des Lebens etwa ist da die Rede. Unser Leben, das schal geworden ist wie Wasser, unser Leben, das hart und kalt geworden ist wie ein steinerner Krug, das sich in festgefügten Normen festgefahren hat, wie in leeren Gefäßen, dieses unser Leben wird zu Wein, der das Herz des Menschen erfreut. Ein anderes Bild spricht davon: Unser Leben kann werden wie die Hochzeit zwischen Gott und Mensch. Es ist in vielen Bildern davon die Rede, was es bedeutet, von Neuem geboren zu werden und neue Lebendigke it in sich zu erfahren. „Leben in Fülle“ heißt auch, dass wir mit einer inneren Quelle in Berührung kommen können, von der wir aber oft genug durch unsere Sorgen und Probleme abgeschnitten sind. Der Weg zu diesem Leben führt in das Gelobte Land, in das Land, in dem wir ganz wir selbst sein dürfen, in der wir das einmalige Bild erfahren, das Gott sich von jedem von uns gemacht hat. Auf dem gemeinsamen Weg durch die Wüste müssen wir uns immer wie der daran erinnern, wer wir eigentlich sind: dass wir mehr sind als Menschen, die ihre Pflicht zu erfüllen haben, dass wir Menschen sind mit einer unantastbaren Würde, dass wir aus Gott geboren sind und von ihm her wahre Freiheit und wahres Leben haben. Leben in Fülle heißt auch, dass wir andere zu ihrer inneren Quelle führen, dass wir denen, die die Augen verschließen vor der Wahrheit ihres Herzens, die Augen öffnen, damit sie die blinden Flecken erkennen, die sie vom Leben abhalten.
„In Fülle leben“ heißt: Durchblicken, das Eigentliche sehen. Das schließt durchaus ein, dass ich mit neuen Augen auch das Schmutzige in mir sehen und mich damit aussöhnen kann. Wir können alles Gott hinhalten, damit Er es in Fülle des Lebens verwandelt. Wenn ich mit neuen Augen durch das Leben gehe, werde ich mitten in der Banalität des Alltags Leben in Fülle als etwas erfahren, was auch durch den Tod nicht vernichtet werden kann. Es ist das Leben der Liebe, aus der wir auch im Tod nicht herausfallen werden. Der französische Philosoph Gabriel Marcel hat es einmal so umschrie ben: „Lieben, heißt, zum andern zu sagen: Du, du wirst nicht sterben.“ Leben in Fülle heißt also auch, wieder lieben lernen, so lieben können, dass wir uns auch hingeben und verlieren können, ohne auf Nutzen zu starren. Es ist Leben aus einer Liebe, die wir wieder denen schenken können, die uns begegnen, ohne dass wir dabei selbst leer ausgehen, weil wir zuerst geliebt sind. Gerade dadurch, dass wir die Wirklichkeit unseres begrenzten Lebens so erkennen und akzeptieren wie es nun einmal ist, in all seiner Banalität: Auch mit all unseren Enttäuschungen und Belastungen, auch mit unserem Scheitern und unserem Versagen gelangen wir zu einer neuen Qualität unserer Existenz, eben zu diesem Leben in Fülle. Dazu unterwegs zu bleiben, auf dem ganz alltäglichen Weg, darum geht es letztlich immer, jeden Tag unseres Lebens. Es ist ein gesunder und heilsamer Weg - der Weg der wahren Lebenskunst.
NICHTS IST WICHTIGER
„Nichts ist so wichtig wie der heutige Tag.“ (Johann Wolfgang von Goethe)
Wenn ich morgens ins Büro komme und den Stapel auf meinem Schreibtisch sehe, dann sage ich mir: Eins nach dem andern. Nichts anderes ist jetzt wichtig, als diesen Brief zu schreiben und diese Unterschriftenmappe zu erledigen. Im Augenblick leben, achtsam sein, bewusst die Gegenwart auskosten, das sagen uns alle spirituellen Meister.
Der heutige Tag ist wichtig. Jesus fordert mich auf, die Sorge um den morgigen Tag loszulassen. Allein der heutige Tag ist wichtig. Ihm soll ich mich zuwenden: „Sorgt euch also nicht um morgen; denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen.“ (Mt 6,34) Die Sorgen für morgen beschweren den heutigen Tag. Es genügt, mich dem Heute zuzuwenden.
Heute entscheidet es sich, ob ich lebe oder nicht, ob ich da bin oder nicht, ob ich mich auf diesen Menschen einlasse oder nicht, ob ich etwas
Weitere Kostenlose Bücher