Das Buch der Lebenskunst
erfüllte Zeit. Ganz gleic h, ob er arbeitet oder nichts tut, ob er liest oder Musik hört, ob er spazieren geht oder mit seinen Kindern spielt, er ist ganz in dem, was er tut. Er spürt das Geschenk der Zeit, für ihn ist alles geschenkte Zeit. Er muss die Freizeit nicht der Arbeitszeit abzwingen, für ihn ist jede Zeit freie Zeit, Zeit zu leben.
REIFEN LASSEN
„Nur der Geduldige erntet, was reif ist“, so lautet ein afrikanisches Sprichwort. Was es besagt, gilt auch bei uns: Reifen braucht seine Zeit.
Es gibt Früchte, die sehr langsam reifen. Das Korn braucht neun Monate, um heranzureifen. Der Mensch ist nur neun Monate im Mutterschoß, aber er braucht sein ganzes Leben lang, um reif zu werden. Ganz reif wird die Frucht des Menschen erst durch seinen Tod.
Das deutsche Wort „Geduld“ kommt von „dulden = tragen, ertragen, auf sich nehmen“. Mit dulden verbinden wir, dass jemand etwas Schweres auf sich nimmt, dass er Leid trägt. Geduld bedeutet jedoch heute eher: „Langmut, Ausharren, Warten“. Die Italiener rufen einem Ungeduldigen zu: „Patientia“. Dieses Wort hängt zusammen mit dem Italienischen „pati = leiden“. Offensichtlich spiegeln die deutsche und italienische Sprache die Erfahrung wider, dass der, der warten muss, etwas Schweres auf sich nimmt. Was ist das Schwere, das der Geduldige trägt? Es ist kein Leid. Es ist nur die Zeit. Es ist die Zeit, in der er nichts tun kann als warten. Und das ist offensichtlich für viele Menschen das Allerschwerste. Sie meinen, jeden Augenblick im Griff zu haben, alles selber machen zu können. Geduldig sein heißt, einfach da sein, warten, bis etwas reif ist. Nur wer das Nichtstunkönnen, das Nichtssehen, das Ausgeliefertsein an die Prozesse des Wachsens und Reifens aushält, wird ernten können, was reif ist. Wir denken, die Afrikaner sind doch viel geduldiger als wir. Sie können warten. Sie können sich dem Augenblick hingeben, während bei uns alle Wünsche sofort erfüllt werden müssen.
Doch offensichtlich kennen auch die Afrikaner ungeduldige Menschen, die nicht warten können, bis etwas reif ist. Es liegt wohl in der Natur des Menschen, dass er alles selber machen will. Im Warten trägt er schwer an seiner Ohnmacht, dass das Wachsen und Reifen nicht ihm gehorcht, sondern einem anderen, dem inneren Prozess oder Gott, der das Wachsen und Reifen bewirkt.
WER HETZT, DER HASST SICH SELBST
„Nimm dir Zeit - und nicht das Leben!“ Was die Verkehrswacht als Motto - und als Aufforderung für bedächtiges Tempo beim Autofahren -
formuliert hat, das birgt eine tiefere Wahrheit in sich. Wir dürfen uns die Zeit nehmen. Sie liegt uns bereit. Wir brauchen sie nur zu ergreifen, wir brauchen sie nur ganz bewusst zu erleben. Dann nehmen wir uns Zeit, dann genießen wir die Zeit. Sich das Leben nehmen hat im Deutschen eine andere Bedeutung: den Suizid. Wer sich keine Zeit nimmt, der verdirbt sich das Leben und oft genug bezahlt er seine Ruhelosigkeit und Hetze mit dem Leben. Wer hetzt, der hasst sich selbst. Er lebt nicht für sich, sondern gegen sich. Er verwechselt Leben mit Hast und Hetze. Das führt häufig zu Schlaganfall und Herzinfarkt. Das, was man mit der Hetze alles erreichen wollte, wird einem jählings aus der Hand gerissen.
Wer sich dagegen Zeit nimmt, der hat mehr Zeit für das, was er im Leben verwirklichen möchte. Er wird ruhig an sein Ziel kommen. Er erlebt schon seine Lebensfahrt als Vergnügen und braucht sich nicht nach einer anstrengenden Fahrt zu erholen. Er holt sich in jedem Augenblick das, was er zum Leben braucht. Wer leben will, der muss sich Zeit nehmen.
Ohne Zeit gibt es kein Leben. Das Leben vollzieht sich in der Zeit. Und nur wer sich auf seinen ihm angemessenen Zeitrhythmus einlässt, schwingt in das Leben ein, das für ihn stimmt.
Unruhe gehört zwar zu unserem Leben. Und sie treibt uns an, weiter zu wachsen, nicht zu früh uns zur Ruhe zu legen, sondern wirklich zu leben. Aber dann braucht es auch wieder Phasen der Ruhe, in denen sich etwas setzen kann. Sonst verselbständigt sich die Unruhe. Manchmal braucht die innere Unruhe gerade Zeiten der äußeren Ruhe, damit sie sich überhaupt zu Wort melden kann. Da bedarf es dann eines längeren Rückzugs, um die leisen Impulse zu hören, die einen beunruhigen und einem zeigen, dass das, was man gerade lebt, so nicht mehr stimmt.
IM RHYTHMUS LEBEN
„Wer die Nacht nicht ehrt, ist des Tages nicht wert.“ Dieses italienische Sprichwort enthält eine tiefe Weisheit: Die
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