Das Buch der Lebenskunst
frühen Mönche haben die Nacht immer heilig gehalten. Die Nacht ist der Raum des Schweigens, in dem Gott zu mir sprechen möchte. Gott spricht zu mir im Traum und zeigt mir, wie es um mich steht oder welche Schritte mich zum Leben führen. Gott spricht zu mir, wenn ich nachts aufwache und nicht mehr schla fen kann. Im Schlaf tauchen wir nach einer jüdischen Tradition in die eigentliche Wirklichkeit ein. Wir werden angeschlossen an das göttliche Leben. Das nächtliche Schweigen gibt dem Schlaf und dem Traum einen helfenden und heiligen Raum. Die Stille der Nacht täte uns daher allen gut.
Für viele Menschen wird die Nacht heute zum Tag. Sie sitzen halbe Nächte vor dem Fernseher. Andere sind Nachtarbeiter. Sie kommen nicht ins Bett, weil sie dies oder jenes noch erledigen wollen. Andere bleiben bei einer gesellschaftlichen Runde einfach sitzen. Sie meinen, etwas zu verpassen, wenn sie ins Bett gehen. Wer kein Gespür hat für die Würde der Nacht - so meint das italienische Sprichwort -, der wird auch den Tag nicht gut bestehen. Er wird müde in den Tag hineinschlittern und nur halb mitbekommen, was am Tag geschieht. Er wird keinen Blick haben für das Geheimnis des Morgens, für die Frische des Morgens, die das Herz erquickt, für das Aufsteigen des Lichtes, das das Herz erhellt. Nur wer im Rhythmus des Tages und der Nacht lebt, erfährt das Geheimnis des Lebens.
Tag und Nacht sind Bilder für das Leben. Der Morgen hat eine eigene Qualität. „Morgenstund hat Gold im Mund“, sagt das Sprichwort. Wer den Morgen bewusst erlebt, wird voller Schwung am Vormittag an die Arbeit gehen. Er wird die Müdigkeit des Mittags genießen und sich die Pause eines kurzen Mittagsschlafes gönnen. Er wird den Nachmittag mit seinen eigenen Stimmungen erfahren. Und er wird den Abend dankbar genießen, sich ausruhen von der Arbeit des Tages. Er wird am Abend Abschied nehmen vom Tag, um sich in Gottes gütige Hände fallen zu lassen.
Wer den Rhythmus des Tages und der Nacht
durcheinanderbringt, dessen Seele wird verwirrt. Er verliert das In-sich-Ruhen, das Sich-Hinein-schwingen in den Rhythmus des Lebens.
EWIGKEIT IST JETZT
„Die Menschen verbringen ihre ganze Zeit mit Vorbereiten, Vorbereiten, Vorbereiten ... Nur um dem nächsten Leben dann völlig unvorbereitet zu begegnen.“ Das sagt der tibetische Weise Drakpa Gyaltsen über die Menschen im Westen.
Viele Menschen bereiten sich in der Tat ständig nur darauf vor, wirklich leben zu können, anstatt das Leben zu ergreifen, das schon da ist. Das Leben ist in jedem Augenblick. Wer ganz im Augenblick ist, der lebt jetzt schon. Doch oft benutzen wir unsere spir ituellen oder auch psychologischen Techniken und Methoden lediglich dazu, uns für die Zukunft zu wappnen. Wir glauben, uns erst dann den heutigen Anforderungen stellen zu können, wenn wir unsere gesamte Vergangenheit aufgearbeitet haben. Doch manche bleiben in der Aufarbeitung ihrer Verletzungsgeschichte stecken. Sie kommen nie zum Leben. Andere bereiten sich durch gute Vorsätze darauf vor, irgendwann einmal gelassen und heiter leben zu können. Aber sie kreisen immer nur um die Vorsätze, die sie doch nicht erfüllen. Und sie kommen nie zur inneren Heiterkeit, die schon in ihnen bereitliegt. Sie brauchten nur ihren ganzen Druck loszulassen, mit dem sie sich zwingen, die Voraussetzungen des Lebens zu erfüllen. Der Druck erzeugt kein Leben.
Er behindert es nur.
Das Leben ist in jedem Augenblick gegenwärtig. Es liegt vor meinen Füßen. Ich muss es nur betreten. Ich brauche keine lange Vorbereitung.
Der nächste Schritt ist ein Schritt ins Leben, wenn ich ihn bewusst vollziehe. Wer ganz im Augenblick lebt, der spürt hier und jetzt schon, dass Zeit und Ewigkeit zusammenfallen. Für den bricht die Ewigkeit in seine Zeit ein. Er hat jetzt schon ein Gespür für das ewige Leben, für das
„nächste Leben“. Er bezieht den Tod mit ein in sein Leben. Er denkt an den Tod nicht als etwas Zukünftiges, auf das er sich vorbereiten muss, sondern als etwas, das ihn jetzt einlädt, im Augenblick zu leben.
LEBE IN DER GEGENWART
„Wenn uns Verzweiflung überkommt, liegt das gewöhnlich daran, dass wir zu viel an die Vergangenheit und an die Zukunft denken“.
Verzweiflung kommt nach dieser Erkenntnis der heiligen Therese von Lisieux davon, dass wir zu viel an die Vergangenheit und Zukunft denken. Wenn wir ständig die Verletzungen der Vergangenheit betrachten, steigt in uns vielleicht Verzweiflung hoch über die
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