Das Buch der Lebenskunst
nicht gelingt, den Abgrund zu überwinden, der uns von uns selbst trennt? Dies ist die wichtigste aller Entdeckungsreisen; ohne sie sind alle anderen nicht nur nutzlos, sondern zerstörerisch.“ Der Trappist und geistliche Schriftsteller Thomas Merton hat diese Warnung formuliert, unmittelbar nachdem die erste Landung eines Menschen auf dem Mond die Welt in Bann schlug und optimistische technische Utopien die Phantasie ins scheinbar Grenzenlose beflügelten.
Das liegt Jahrzehnte zurück - und ist so wahr wie damals: Neulich erzählte mir eine Frau von ihrem ehemaligen Freund, der ein erfolgreicher Unternehmer ist, aber sie als Frau verlassen hat, als sie von ihm schwanger wurde. Von vielen wird dieser Mann bewundert. Doch er merkt gar nicht, wie er Frauen behandelt, sobald sie sein Image ankratzen. Da spürt man, wie weit er von sich selbst entfernt ist. In seinem Beruf verfolgt er ehrgeizige Projekte. Er bewegt die halbe Welt.
Doch den Weg zu sich selbst findet er nicht. Er ist nicht in Berührung mit seiner schwachen Seite, die er durch erfolgreiche Aktionen nach außen zudecken muss. Solange er nicht den Abgrund überwunden hat, der ihn von seinem wahren Selbst trennt, wird von ihm nie wirklicher Segen ausgehen. Er wird immer wieder Menschen verletzen. Er muss andere klein machen, um an seine Größe glauben zu können. Er muss
„Bewunderungszwerge“ um sich sammeln, wie der Münchner Therapeut Albert Görres es einmal formuliert hat. Doch alles, was ihm helfen könnte, das eigene Selbst zu erkennen, lehnt er ab. So wird sein Tun, auch wenn es auf den ersten Blick noch so erfolgreich ist, immer wieder Menschen zerstören und letztlich auch keinen Segen bringen für diese Welt.
ÜBERSCHÄTZ DICH NICHT
Alle Religionsstifter und die großen Weisheitslehrer aller spirituellen Traditionen der Menschheit zeigen uns ähnliche Wege wahrer Lebenskunst. Ihre Weisheit hat eine gemeinsame Quelle, aus der alle Menschen, alle Kulturen und Religionen schöpfen. „Drei Dinge im Leben sind zerstörerisch: Zorn, Gier und Selbstüberschätzung.“ Diese Einsicht hat Mohammed formuliert. Sie ist heute so aktuell wie vor nahezu eineinhalb tausend Jahren. Und sie findet ihre Entsprechung in der Psychologie christlicher Mönchsväter, die noch vor Mohammed lebten.
Die drei Dinge, die Mohammed als Lebenszerstörer versteht, entsprechen den drei Bereichen, aus denen die neun Laster entspringen, die Evagrius
Ponticus, der wohl bedeutendste christliche
Mönchsschriftsteller, im vierten Jahrhundert beschrieben hat. Evagrius unterscheidet im Einklang mit der griechischen Philosophie drei Bereiche im Menschen, den begehr lichen, den emotionalen und den geistigen Bereich. Und jedem Bereich ordnet er drei Leidenschaften zu, die zunächst wertfrei sind, die aber auch zu Lastern werden können, wenn der Mensch nicht bewusst und achtsam mit ihnen umgeht.
Der begehrliche Teil, von dem Evagrius spricht, entspricht in der Analyse Mohammeds der Gier. Die Gier kann sich beziehen auf das Essen (Völlerei), auf die Sexualität (Unzucht) und auf den Besitz (Habgier). Der Gierige kann nicht genießen, weder das Essen noch die Sexualität, noch den Besitz. Er muss immer mehr in sich hineinschlingen, um seine innere Leere zu verdecken. Er braucht immer neue sexuelle Kontakte, um in seiner Erstarrung überhaupt etwas Lebendigkeit zu spüren. Und er wird vom Besitz besessen. Er kann sich nicht ausruhen, sondern wird dazu getrieben, immer noch mehr zu besitzen, anstatt das, was er hat, zu genießen und sich daran zu freuen.
Im emotionalen Bereich unterscheidet Evagrius zwischen Traurigkeit, Zorn und akedia (Lustlosigkeit, Trägheit). Aber alle drei emotionalen Fehlhaltungen haben letztlich mit dem unbewältigten Zorn zu tun.
Aggression kann ja auch eine positive Kraft sein. Doch wenn ich sie in mich hineinfresse, wird sie entweder zur Depression (Traurigkeit, Selbstmitleid) oder zum Groll und zur Bitterkeit. Oder aber sie lässt mich nicht zur
Ruhe kommen (akedia). Sie treibt mich hierher und dorthin, weil ich nicht weiß, wie ich mit der Energie meiner Aggression auf angemessene Weise umgehen kann.
Im geistigen Bereich nennt Evagrius als die drei Gefährdungen des Menschen: Ruhmsucht, Neid und Hybr is.
Mohammed fasst diese drei Laster in das der Selbstüberschätzung zusammen. Wer sich selbst überschätzt, der lebt an sich vorbei, der zerstört sich selbst. Er weigert sich, seine Wirklichkeit anzuschauen und anzunehmen. Die
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