Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Quicksilver

Quicksilver

Titel: Quicksilver Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
Vom Netzwerk:
Boston Common
    12. OKTOBER 1713, 10:33:52 UHR
    Enoch biegt gerade in dem Moment um die Ecke, als der Henker die Schlinge über den Kopf der Hexe hebt. Und die Menge auf dem Common hört genau so lange auf zu beten und zu schluchzen, wie Jack Ketch mit durchgedrückten Ellbogen dasteht, beinahe wie ein Zimmermann, der einen Firstbalken an seinen Platz hievt. Die Schlinge fasst ein Oval blauen New-England-Himmels ein. Die Puritaner starren sie an und machen sich, wie es scheint, Gedanken. Enoch der Rote zügelt sein Pferd, als es sich den Ausläufern der Menge nähert, und sieht, dass der Henker nicht etwa die Absicht hat, ihnen seine Knüpfkunst vorzuführen, sondern vielmehr ihnen allen einen kurzen – für einen Puritaner durchaus verlockenden – Blick auf das Portal zu gewähren, das sie alle eines Tages werden durchschreiten müssen.
    Boston ist ein Klecks von Hügeln in einem Löffel voller Sümpfe. Der Weg, der sich von hier aus den Löffelstiel hinaufzieht, wird zunächst von einer Mauer versperrt, außerhalb derer der übliche Galgen steht, und am Stadttor sind Opfer, oder Teile von ihnen, aufgeknüpft oder angenagelt. Enoch ist auf diesem Weg gekommen und hatte geglaubt, dass er dergleichen nun nicht mehr würde sehen müssen – und es hinfort nur noch Kirchen und Schänken gäbe. Aber die Toten draußen vor dem Tor waren gemeine Räuber, hingerichtet wegen irdischer Verbrechen. Was hier auf dem Platz passiert, hat eher etwas Sakramentales.
    Die Schlinge liegt wie eine Krone auf dem grauen Kopf der Hexe. Der Henker streift sie ihr über. Ihr Kopf dehnt sie wie der eines Kindes den Geburtskanal. Als die weiteste Stelle erreicht ist, fällt ihr die Schlinge plötzlich auf die Schultern. Die Knie der Frau beulen ihre Schürze vorne aus, und ihre Röcke schieben sich, als sie zusammenzubrechen droht, auf dem Gerüst ineinander. Um sie aufrecht zu halten, umfängt der Henker sie mit einem Arm wie ein Tanzlehrer und schiebt dabei den Knoten zurecht, während ein Gerichtsschreiber das Todesurteil verliest. Es klingt so nichts sagend wie ein Pachtvertrag. Die Menge scharrt ungeduldig mit den Füßen. Das ablenkende Beiwerk einer Hinrichtung in London gibt es hier nicht: keine Pfiffe und Buhrufe, keine Jongleure oder Taschendiebe. Unten am anderen Ende des Platzes exerziert eine Schwadron Infanteristen und marschiert rund um den Fuß eines kleinen Hügels, auf dessen Kuppe ein steinerner Pulverturm aufragt. Ein irischer Sergeant kommandiert – gelangweilt, aber auch empört – mit einer Stimme, die vom Wind ewig weit getragen wird wie der Geruch von Rauch.
    Enoch ist nicht hergekommen, um Hinrichtungen von Hexen beizuwohnen, doch jetzt, wo er in eine hineingeraten ist, wäre es ungehörig, einfach wieder zu gehen. Es ertönt ein Trommelwirbel, dem eine plötzliche ungute Stille folgt. Was Hinrichtungen angeht, hat er schon wesentlich Schlimmeres erlebt – es gibt kein Strampeln oder Sichwinden, keine reißenden Stricke oder sich lösende Knoten – alles in allem eine ungewöhnlich fachmännische Arbeit.
    Im Grunde hatte er nicht gewusst, was er von Amerika zu erwarten hatte. Aber die Leute hier scheinen alles – Hinrichtungen eingeschlossen – mit einer unverblümten, nüchternen Zielstrebigkeit zu erledigen, die bewundernswert und enttäuschend zugleich ist. Wie springende Fische machen sie sich mit einer blutleeren Leichtigkeit an schwierige Aufgaben. Als wüssten sie alle von Geburt an Dinge, die sich andere, zusammen mit Märchen und Aberglauben, erst von ihren Familien und Dörfern aneignen müssen.Vielleicht liegt es daran, dass die meisten von ihnen auf Schiffen herübergekommen sind.
    Als sie die schlaffe Hexe vom Galgen schneiden, fegt ein böiger Nordwind über den Platz. Auf Sir Isaac Newtons Temperaturskala, wo der Gefrierpunkt bei null und die Wärme des menschlichen Körpers bei zwölf liegt, ist es jetzt vermutlich vier oder fünf. Wenn Herr Fahrenheit mit einem seiner neuen, aus einer verschlossenen Röhre mit Quecksilber bestehenden Thermometer hier wäre, würde er wahrscheinlich eine Temperatur um die fünfzig feststellen. Aber diese Art von Herbstwind, der aus dem Norden kommt, ist eisiger, als es irgendein bloßes Instrument anzeigen kann. Dieser Wind erinnert jeden hier daran, dass man, wenn man nicht in ein paar Monaten tot sein will, schleunigst Feuerholz stapeln und Ritzen abdichten muss. Auch von einem heiseren Prediger am Fuße des Galgens wird der Wind wahrgenommen; er hält ihn

Weitere Kostenlose Bücher