Das Buch der Schatten: Roman (German Edition)
von Jahren unbekannte Künstler mit präziser Genauigkeit auf das Gemäuer gemalt hatten. Vor dem Tisch des Herrn blieb Schwester Maria stehen. Sie kniete sich nieder, senkte ihr Haupt und verharrte einige Zeit in dieser Stellung. Rouven tat dasselbe. Deutlich konnte er vernehmen, wie Schwester Maria ein leises Gebet flüsterte. Nachdem sie geendet hatte, erhob sie sich wieder aus ihrer ehrfürchtigen Haltung. Ihre Blicke richteten sich zu dem gewaltigen Kruzifix, das sich hinter dem Altar in die Höhe erstreckte. Rouven folgte ihr, als sie das Podest des Altars betrat. Rechter Hand befand sich eine niedrige Holztür. Auf diese ging die Schwester zu. Sie knarrte, als sie die Tür langsam aufdrückte. Vorsichtig begab sie sich hindurch. Rouven blieb davor stehen. Seine Aufmerksamkeit wurde von einem Bild gefesselt, das sich über der Tür auf dem Gemäuer befand. Mit großen erschrockenen Augen starrte er es an. Ein mächtiger Engel mit schneeweißen Flügeln bückte sich zu einem Knaben. Der Engel hielt ein großes schwarzes Buch in der Hand, das er dem Knaben entgegenstreckte. Auf dem Buch standen mehrere Worte geschrieben. Jedoch waren sie im Laufe der Zeit vollkommen verblichen und dadurch unleserlich geworden. Der Hintergrund des Gemäldes bildete das Universum, das in der Mitte aufgerissen ein dunkles Loch erkennen ließ. Am Fuße des Himmelsboten wand sich eine Schlange, die zu dem Knaben emporblickte.
Schwester Maria wandte sich um, als sie bemerkte, daß Rouven stehengeblieben war. Verwirrt über Rouvens erschrockenen Gesichtsausdruck trat sie ihm entgegen. Rouven bemerkte sie nicht. Auch nicht, als sie dicht hinter ihm stand. Ebenfalls begann sie das Bild zu betrachten.
Durch den dumpfen Schlag der Eingangspforte schreckte sie auf. Rouven registrierte es nicht. Unaufhörlich stierte er auf das Bild.
Pater Richmon näherte sich dem Altar. Pater Richmon zählte etwas über dreißig Jahre, hatte eine durchschnittliche Größe und dunkelbraunes, gelocktes Haar. Sein Gesicht verbarg sich hinter einem dichten Vollbart. Gekleidet war er meist mit einer einfachen braunen Kutte, die mit einer weißen Kordel um die Hüfte zusammengebunden war. Ein erfreutes Lächeln verzog seinen Mund, als er Schwester Maria mit dem Jungen vor dem Gemälde stehen sah. Schwester Maria blickte ihm entgegen. Freundlich lächelte sie zurück. Erst nachdem der Pater das Podest betreten hatte, senkte Rouven seinen Kopf. Schüchtern versteckte er sich hinter der Schwester.
„Guten Abend, Schwester Maria“, grüßte Pater Richmon. Seine Blicke suchten die des Jungen. Rouven verbarg sein Gesicht in den Händen.
„Du brauchst keine Angst vor mir zu haben“, lächelte der Pater. Schwester Maria strich Rouven zärtlich über die Haare.
„Das ist Pater Richmon“, sagte sie zu ihm. „Bestimmt würde er sich sehr darüber freuen, wenn du ihn begrüßt, Rouven.“
Rouven trat hinter der Schwester hervor. Er genierte sich, den Pater anzuschauen, als er ihm seine Hand reichte. Pater Richmon bückte sich ein wenig und drückte sie leicht.
„Du bist also der Junge, von dem mir Mr. Goodman erzählt hatte“, bemerkte er. Seine Stimme klang überaus sanft. Rouven erhob ein wenig seinen Kopf.
„Du interessierst dich sehr für diese Bilder“, erwähnte Richmon seine Beobachtung. „Wenn du willst, kann ich dir einiges über diese Bilder erzählen.“
Rouven erhob noch weiter seinen Kopf. Mit dem Finger zeigte er auf das Gemälde, welches er betrachtet hatte. „Kannst du mir etwas von diesem Bild erzählen?“ duzte er den Pater. Schwester Maria sah den Pater erwartungsvoll an. Dieser begann nun auch, das Gemälde zu besichtigen. Längere Zeit sagte er nichts dazu. Minuten verstrichen, bis er Rouven wieder anblickte.
„Leider muß ich dich enttäuschen“, sagte er zu ihm. Ein merkwürdiger Glanz schimmerte in seinen Augen. „Niemand konnte bisher dieses Gemälde eindeutig deuten. Man sagt, das einzige Bild dieser Art auf der Welt ist dieses Gemälde hier.“
Rouven sah von Pater Richmon zu Schwester Maria.
„Ich möchte gehen“, sagte er. Verwirrt blickte sie ihn an. Rouven faßte die Schwester an der Hand. Pater Richmon lächelte nur.
„Sehen wir uns wieder, Rouven?“ fragte er den Jungen. Rouven mustere wieder das Bild.
„Vielleicht“, gab er nach einer Weile zur Antwort. Er zog Schwester Maria am Arm, um sie dadurch aufmerksam zu machen, daß er gehen wolle. Widerstandslos folgte sie seiner stummen Aufforderung.
„Ich
Weitere Kostenlose Bücher