Das Buch der Schatten: Roman (German Edition)
leicht. Sie fühlte sich kalt an.
„Der Internatsleiter hat mich zu Ihnen geschickt“, erklärte er sein Dasein. „Ich komme wegen meines Sohnes.“
„Wegen Ihres Sohnes?“ Fragend blickte sie ihn an. „Ich habe keinen Schüler mit dem Namen Blandow.“
„Es geht darum, ob Sie in Ihrem Klassenzimmer noch einen Platz für meinen Sohn frei haben. Mr. Goodman möchte die Entscheidung Ihnen überlassen.“
„Er wird es schwer haben, noch den Anschluß zu finden“, meinte die Schwester nachdenklich.
„Sie sind meine letzte Hoffnung“, erwiderte Mr. Blandow. „Seine Mutter ist vor wenigen Tagen gestorben. Leider kann ich mich nicht um ihn kümmern. Aus gesundheitlichen Gründen muß ich in nächster Zeit eine lange Reise antreten.“
Schwester Maria berührte das Kreuz, das sie ständig um ihren Hals gehangen mit sich trug. Sie senkte ihre Augenlider. Leise sprach sie ein Gebet. Als sie geendet hatte, blickte sie Mr. Blandow wieder an.
„Haben Sie Ihren Sohn bei sich?“ fragte sie ihn leise. Über das Gesicht Mr. Blandows ging ein freudiger Schimmer, der jedoch sofort wieder verfloß.
„Er wartet draußen. Soll ich ihn hereinholen?“
„Ich würde ihn gerne einmal kennenlernen“. Auffordernd lächelte sie ihn an.
„Er ist sehr schüchtern“, entschuldigte Mr. Blandow das Verhalten seines Sohnes. „Möchtest du Schwester Maria nicht begrüßen, Rouven?“ forderte er seinen Sohn auf.
Anstandslos streckte Rouven ihr seine Hand entgegen, ohne sie aber dabei anzublicken.
„Ich bin Schwester Maria“, sagte sie zu Rouven. Sanft drückte sie seine Hand. „Bestimmt werden wir zwei uns gut verstehen.“
Mr. Blandow horchte auf. „Heißt das, daß Sie meinen Sohn bei sich aufnehmen werden?“ fragte er sofort.
„Wenn es Rouven bei uns gefällt, ja“, antwortete sie.
Rouven blickte auf. Tränen rollten über seine Wangen. Jetzt erst konnte Schwester Maria in sein Gesicht sehen. Es war übersät von lauter kleinen Sommersprossen. Auch das leichte Abstehen seiner Ohren fiel nun auf. Traurig blickte er sie an. Schwester Maria hatte den Jungen schon in ihr Herz geschlossen.
„Was meinst du dazu, Rouven. Würde es dir bei uns gefallen?“ fragte sie ihn.
Rouven sah sie nur an. Sein Vater musterte ihn von der Seite. Schwester Maria hockte sich zu ihm nieder. Liebkosend nahm sie seine Hand.
„Du sollst entscheiden, Rouven“, flüsterte sie ihm zu. Rouven blickte zu seinem Vater. Er sah das Feuchte in dessen Augen schimmern. Rouven wandte sich wieder Schwester Maria zu. Wortlos nickte er.
„Dein Vater kann dich sooft besuchen, wie es ihm möglich ist“, sagte sie darauf. Schwester Maria richtete sich wieder auf. „Möchten Sie Rouven heute schon hierlassen?“ fragte sie, zu Mr. Blandow gerichtet.
„Wenn es Ihnen keine Umstände bereitet“, gab Mr. Blandow zurück. Dankbar sah er sie dabei an. Schwester Maria nahm den Jungen an der Hand. „Folgen Sie mir“, forderte sie Mr. Blandow auf. Sie führte Rouven aus dem Klassenzimmer. Auf dem Schulhof blieb sie stehen.
„Seien Sie unbesorgt“, sagte sie zu Mr. Blandow. „Unser Internat liegt sehr weit abgelegen von der nächsten Großstadt. Früher war es einmal eine Klosterschule. Am Anfang dieses Jahrhunderts ist es zu einem Internat umfunktioniert worden. Wie Sie sehen, sind wir ringsherum eingeschlossen von dichtem Wald. Für die Kinder ist es sogar erlaubt, das Internat während ihrer freien Zeit zu verlassen. Nur dürfen sie sich über die Abgrenzungen hinaus nicht aufhalten.“
Mr. Blandow ließ seinen Blick an dem Gemäuer entlanggleiten. Ungefähr in der Mitte des Klosteranwesens befand sich die Kirche. Mächtig ragte der Kirchturm über all den anderen Gebäuden hinaus. Auf diesem blieb sein Blick haften.
„Jeden Sonn- und Feiertag ist allgemeiner Kirchgang“, berichtete Schwester Maria darauf. „Das Internat verfügt über sämtliches Personal. Es wäre sogar möglich, für längere Zeit von der Außenwelt abgeschnitten zu werden.“
Langsam senkte Mr. Blandow seinen Blick. Als würde er die Steine des Turmes zählen. Von der anderen Seite des Hofes hallten Schritte. Ein kleingewachsener alter Mann kam in gebückter Haltung auf sie zu.
„Haben Sie schon eine Entscheidung getroffen?“ fragte der alte Mann die Schwester, als er bei ihnen war.
„Soeben erzählte ich Mr. Blandow etwas über die Geschichte unseres Internates, Mr. Goodman“, erwiderte sie. „Rouven kann heute schon hier bleiben.“ Zärtlich strich sie
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