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Das Buch der Sünden

Das Buch der Sünden

Titel: Das Buch der Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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Hauses führte. In der Küche setzten sie sich an den Tisch. Das Hausmädchen Allisa hatte ihn bereits mit frischem Weizenbrot und in Mandelmilch eingelegtem Hühnerfleisch gedeckt, das mit Speck und Honig verfeinert worden war. Nachdem sie das Frühstück schweigend zu sich genommen hatten, brachen Odo und Allisa auf. Alexandra begleitete sie nicht, da sie ungeduldig auf Nachricht von Siegfried wartete.
    Der Himmel über dem Regierungsviertel graute bereits. Das Haus des Grafen stand unweit des Palais, in dem König Karl bisweilen zu residieren pflegte. Während seiner Abwesenheit – und das war eher die Regel als die Ausnahme – führte Siegfried die Geschicke der Stadt.
    Odo und die vierzehnjährige Allisa, ein hübsches Mädchen mit langem braunem Haar und üppigem Busen, schlichen im frühmorgendlichen Zwielicht durch das Regierungsviertel. Hier standen die massiven Steingebäude, die bereits von den Römern errichtet worden waren.
    An das Regierungsviertel schloss sich die Bürgerstadt an. Die Gassen waren trotz der frühen Stunde voller Leute, die auf dem Weg in die Kathedrale waren, wo sie auf den Schutz Gottes hofften, und so trieb ein steter Strom aus Menschen zwischen den aus Lehm und Holz erbauten Häusern hindurch, der aufgehenden Sonne entgegen.
    Über der sonst so lebhaften und bunten Stadt lag eine bleierne Stille, die Odo erschauern ließ. Schweigend schleppten sich die Menschen voran. Der erste Schreck über den Angriff der Barbaren war der Sprachlosigkeitgewichen. Niemand fand mehr Worte für das Grauen, das jenseits der Mauern wütete. Inzwischen war bekannt geworden, dass die Angreifer genau einhundertundelf Menschen am Seineufer gehängt hatten. Die Zahl der Erschlagenen und Ertrunkenen konnte noch niemand abschätzen; aber es war schon jetzt sicher, dass es Hunderte Todesopfer gegeben hatte.

3.
    Die Menschenmassen erreichten den östlichen Teil der Stadt, den Sitz der geistlichen Macht. Außer der Kathedrale befanden sich hier auch das Bischofspalais und der Kapitelbezirk.
    Die Kathedrale!
    Odo legte staunend den Kopf in den Nacken. Er schaute hinauf zu Saint Etienne, dem dreihundert Jahre alten Gotteshaus, das das prächtigste seiner Art in König Karls Reich war.
    Der imposante Anblick gab Odo immer wieder ein Gefühl von Ehrfurcht – und von Sicherheit. Eine Stadt, die eine solche Kathedrale besaß, würde niemals das Opfer von wilden, Gott verachtenden Menschen werden, wie es die Normannen waren.
    Diese verfluchten Heiden!
    Odo und Allisa tauchten in die unterhalb der beiden Türme gelegene Eingangshalle ein. Die mehr als fünfzig Schritt breite Basilika, deren Schiffe von gewaltigen grauen Marmorsäulen voneinander getrennt waren, war bis auf den letzten Platz gefüllt. Als die Menschen den Sohn des Grafen anhand des Wappens auf seinem Mantel erkannten,ließen sie ihm und dem Mädchen den Vortritt. Denn auf dem Grafen ruhte all ihre Hoffnung: Die Menschen waren der festen Überzeugung, dass nur Siegfried von Lutetia in der Lage war, sie vor dem Bösen zu bewahren.
    Odo und Allisa schoben sich vor bis in die erste Reihe, nur wenige Schritte entfernt von Priester Jakob, einem hochgewachsenen, hageren Mann mit durchdringendem Blick und strengen Zügen, der im Chor eine Schale mit Weihrauch schwenkte.
    Odo quetschte sich zwischen Allisa und einen Mann mittleren Alters, der den Gestank von Zwiebeln ausdünstete. Der Junge erkannte in dem Mann den Gemüsehändler Ceparius. Er hatte das kantige Kinn vorgestreckt und beobachtete mit skeptischem Blick jede Bewegung des Priesters.
    Das Gemurmel verebbte, als Jakob die Weihrauchschale auf dem Altar abstellte. Er breitete die Arme aus wie ein Adler seine Schwingen. In festliche Gewänder gekleidete Knaben traten daraufhin herbei, stellten sich im Chor nebeneinander auf und richteten die Blicke auf die in der Basilika versammelten Menschen.
    Es wurde totenstill.
    Die Osterfeier war der Höhepunkt einer arbeitsfreien Woche, die viele Stadtbewohner für die Vorbereitungen des Auferstehungsfestes genutzt hatten. Niemals zuvor waren die Messen so gut besucht gewesen, und niemals zuvor waren die Bitten um Gottes Gnade so inständig gewesen wie in den vergangenen Tagen.
    Im Spätsommer des vergangenen Jahres, dem Jahr des Herrn 844, hatte eine vom Südostwind herbeigewehte Heuschreckenplage das Pariser Umland heimgesucht. Binnen weniger Tage hatten die Tiere alles Getreide von denFeldern gefressen. Die verwesenden Insektenleichen hatten eine Seuche

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