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Das Buch der Sünden

Das Buch der Sünden

Titel: Das Buch der Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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ausgelöst. Es kam zu einer Hungersnot, die in dem strengen Winter vielen geschwächten Menschen den Tod brachte.
    Dieser Katastrophe hatten die Pariser am heutigen Ostersonntag gedenken wollen. Doch nun war eine neue Plage über sie hereingebrochen – eine Plage, deren Ausmaß das der Heuschrecken und der Hungersnot bei weitem zu übertreffen drohte.
     
    «Et ecce terraemotus»,
rief Priester Jakob mit schnarrender Stimme. «Siehe, ein großes Erdbeben entstand. Denn ein Engel des Herrn stieg vom Himmel herab.»
    Und die Knaben im Chor stimmten ein: «
Erat autem aspectus
– sein Anblick war wie der Blitz, sein Gewand aber wie Schnee.»
    «Das ist Kuhscheiße», knurrte Ceparius. Er warf Odo einen verschwörerischen Blick zu und sagte: «Mit Psalmen wird der Pfaffe die Wilden nicht besiegen.»
    Der Gemüsehändler ballte demonstrativ die Hand zur Faust. «Gewalt ist die Sprache, die sie verstehen. Diese Pagani, diese Heiden!»
    «Psst!» Eine ältere Frau tippte dem Mann von hinten auf die Schulter. Daraufhin schwieg er und wandte sich mit mürrischem Gesicht wieder dem Priester zu.
    Jakob zitierte mit beschwörender Stimme aus der Offenbarung des Johannes: «Ich sah einen Stern, der vom Himmel auf die Erde herabgestürzt war. Diesem Stern wurde der Schlüssel zu dem Schacht gegeben, der in den Abgrund hinunterführt. Als er den Schacht zum Abgrund aufschloss, quoll Rauch heraus wie aus einem riesigen Schmelzofen und erfüllte die Luft; sogar die Sonne wurdedavon verdunkelt. Aus dem Rauch kamen Heuschrecken hervor, denen die Fähigkeit gegeben war, wie Skorpione zu stechen. Sie schwärmten über die ganze Erde aus   …»
    «Kuhscheiße!», wiederholte Ceparius, dieses Mal so laut, dass Jakob seine Predigt unterbrach und fassungslos in die Menge sah. «Niemand interessiert sich für deine verfluchten Heuschrecken, Priester.»
    «Er hat recht», rief ein junger Kerl, «die Heuschrecken sind Vergangenheit – der Priester soll etwas zu den Normannen sagen!»
    Irgendwo in der Basilika warf ein Mönch die Arme in die Höhe und brüllte: «
De furore Normanorum libera nos, Domine
– Befreie uns, Herr, von der rasenden Wut der Normannen!»
    Jakob hob beschwichtigend die Hände. «Bitte, bitte – Ruhe! Bitte!»
    Als die Aufregung sich nach einer Weile gelegt hatte, fuhr er in seiner Predigt fort: «Die Heuschrecken hatten lange Haare wie Frauen und Zähne wie die eines Löwen. Ihr Rumpf war wie mit Eisen gepanzert, und ihre Flügel machten einen Lärm, als würde ein ganzes Heer von Pferden und Streitwagen in den Kampf ziehen. Der König dieser Heuschrecken ist der Engel aus dem Abgrund; er heißt: der Verderber   …»
    Der Gemüsehändler an Odos Seite drohte erneut mit der Faust. «Halt endlich dein Maul, Priester! Wir wollen wissen, wie wir die Barbaren vernichten können!»
    Sofort lebten die Gespräche wieder auf. Ein Teil der Kirchenbesucher stellte sich auf Ceparius’ Seite, die anderen wollten die Predigt hören.
    Odo hing wie gebannt an den Lippen des Priesters, der mit immer leiser werdender Stimme sagte: «…   das ersteUnheil, das der Wehruf angekündigt hat, ist vorüber; das zweite und das dritte stehen noch bevor   …»
    Odo war fasziniert von Jakobs Worten: Vor seinem inneren Auge sah er Heuschrecken, in deren Mäulern riesige, spitze Zähne steckten und die in goldbeschlagenen Streitwagen durch die Lüfte sausten.
    Und er sah Dämonen, deren König der Verderber war. Der Teufel!
    Plötzlich wurde die Kirchentür aufgerissen.
    Jakob verstummte.
    Allisa stieß einen schrillen Schrei aus.
    Ein Mann stürzte in die Kirche. Er öffnete den Mund, als wolle er den Menschen etwas zurufen. Doch anstatt der Worte quoll ein Blutstrom zwischen seinen Lippen hervor und ergoss sich über sein Leinenhemd.
    Männer, Frauen und Kinder drängten kreischend beiseite.
    Der Mann taumelte drei, vier Schritte vorwärts, dann stolperte er über seine eigenen Füße und schlug der Länge nach hin. Zwischen den Schulterblättern steckte eine Axt. Sie war tief in den Rücken eingedrungen. Der Körper zuckte noch zwei-, dreimal, dann erschlaffte er inmitten einer Blutlache.
     
    Für einen Augenblick schien die Zeit stillzustehen. Niemand in der Kathedrale wagte es, sich zu rühren. Auf den Gesichtern der Menschen zeichnete sich sprachloses Entsetzen ab; dann, nach einer Weile, begann jemand zu schreien, und sofort breitete sich Panik aus.
    Der Verderber, schoss es Odo durch den Kopf. Der Engel aus dem Abgrund, er kommt

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