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Das Buch der Sünden

Das Buch der Sünden

Titel: Das Buch der Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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springen, doch sie wurden von den Fluten der Seine mitgerissen und ertranken. Der Angriff hatte eine Massenpanik ausgelöst,die mehr Opfer forderte als die Schwerter der wilden Horden.
    Odo konnte nicht begreifen, was er sah. Der Anblick der Menschenmenge, die sich in Todesangst gegenseitig umbrachte, überstieg alles, was der Achtjährige bisher gesehen hatte.
    Unterdessen trieben die Angreifer in der Vorstadt etliche Männer zusammen, die sie hinunter zum Flussufer drängten. Tatenlos mussten die Soldaten auf der anderen Flussseite vom Turm und den Wehrgängen aus beobachten, wie man die Gefangenen an eilig errichteten Galgen aufhängte. Unter dem Gejohle und höhnischen Gelächter der Angreifer starben Dutzende Männer.
    Eine schwere Hand legte sich auf Odos Schulter. Siegfried zog seinen Sohn mit einem Ruck von der Brüstung fort. Er kniete vor ihm nieder und schaute ihm fest in die Augen. Das Gesicht des Grafen war von Sorgenfalten zerfurcht.
    «Was sind das für Krieger?», fragte Odo.
    Siegfrieds Blick wurde hart. «Sie stammen aus Ländern, die jenseits des großen Nordmeeres liegen. Man nennt sie Normannen, Männer des Nordens. Es sind blutrünstige Barbaren. Sie haben auch unsere Klöster Rouen und Jumièges geplündert. Aber   …» Er schüttelte verbittert den Kopf. «Wir haben ihren Mut unterschätzt. Wir dachten, diese Heiden könnten sich nur an wehrlosen Mönchen vergreifen. Niemals hätten wir geglaubt, dass sie so tief ins Landesinnere eindringen und unsere Stadt angreifen würden.»
    «Warum töten sie die Menschen?»
    «Weil   … weil sie uns Christen ihrem Gott opfern wollen.»
    «Aber es gibt doch nur einen Gott, den Heiligen Vater.»
    «Ja, sicher», erwiderte Siegfried aufgebracht. «Aber die Heiden glauben an einen Götzen.»
    «An welchen?»
    «Sie nennen diesen Teufel Odin.»
    «Werden sie auch uns aufhängen für diesen Odin?», entgegnete Odo aufgeregt.
    Siegfried presste die Lippen zusammen. «Nein. Unsere Wehranlagen werden dem Ansturm standhalten, ganz sicher.»
    «Und unsere Soldaten sind sehr stark, oder?»
    «Ja, die Soldaten unseres Königs sind die stärksten.»
    Der Graf rief einen seiner Männer herbei und befahl ihm, Odo nach Hause zu begleiten. Bevor sie den Wachturm verließen, drehte Odo sich noch einmal nach seinem Vater um. Er sah, wie Siegfried erregt auf Ratpot und die anderen Heeresführer einredete.
    Außer sich vor Wut, rief Siegfried: «Was haben diese Kerle vor? Sie erschlagen zahnlose Bauern und alte Frauen, von denen sie nicht mehr als rostige Spaten und Nägel rauben können. Warum greifen sie uns nicht an? Sie müssten doch wissen, dass die Schätze, auf die sie es abgesehen haben, in unserer Stadt sind.»
    «Vielleicht wollen sie uns aushungern», warf einer der Soldaten ein.
    «Diese Barbaren sind Feldkämpfer, keine Belagerer», entgegnete Siegfried. «Nein, da steckt etwas anderes dahinter.»

2.
    Am Morgen nach dem ersten Angriff trat Alexandra noch vor Sonnenaufgang mit einer Kerze an das Bett ihres einzigen Kindes. Sie strich Odo zärtlich über die Stirn. Als sie sah, dass er erwachte, küsste sie ihn auf die Wange und flüsterte: «Ich liebe dich, mein Junge.»
    Odo öffnete die Augen. «Wo ist Vater?»
    «Er hat die ganze Nacht mit seinen Männern beraten.»
    «Werden diese Normannen uns alle töten?»
    Alexandra bemühte sich um ein Lächeln und sagte: «Nein, ganz bestimmt nicht.»
    Odo streckte eine Hand aus, um ihre im Kerzenschein schimmernden pechschwarzen Haare zu berühren. Er versuchte in ihrem Gesicht zu lesen, ob sie die Wahrheit gesagt hatte. Aber die dunklen Augen seiner Mutter blieben undurchdringlich und geheimnisvoll.
    Alexandra stammte aus einem Land, das weit entfernt im Süden lag. Dort lebten die Menschen in Häusern aus Sand, und es gab viel weniger Bäume als im westfränkischen Reich. Siegfried hatte Odo erzählt, dass man diese Menschen Sarazenen nannte und dass sie die schönsten seien, die es auf der ganzen Welt gab.
    Und Alexandra war von all diesen Menschen die Herrlichste.
    Sarazenen. Odo liebte den Klang dieses Wortes, denn in ihm schwang all das Herrliche mit, das er in seiner Mutter sah: Schönheit, Güte, Weisheit, Wärme, Vertrauen und Liebe – bedingungslose Liebe.
    «Dein Vater möchte, dass du uns einen Gefallen tust»,sagte Alexandra. «Er möchte, dass du in die Kirche gehst und für uns betest. Würdest du das tun?»
    Odo kletterte aus dem Bett.
    Sie stiegen die Treppe hinab, die in die untere Etage des

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