Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
über dem Wasser liegt, wenn die Sonne sich von ihm abwendet und verlischt. Ich sehe mich, wie ich den See sehe, den ich mir vorgestellt habe, und in diesem See sehe ich mich. Ich vermag mir dieses Bild nicht zu erklären, oder dieses Symbol, oder dieses Ich, in dem ich mich abbilde. Sicher jedoch ist, daß ich, als sähe ich sie wirklich, eine Sonne sehe, die hinter den Bergen ihre letzten Strahlen über den See schickt, der sie dunkelgolden aufnimmt.
Ein Übel des Denkens ist, daß man während des Denkens sieht. Wer mit dem Verstand denkt, ist gedankenlos, wer mit dem Gefühl denkt, schläft, wer mit dem Willen denkt, ist tot. Ich hingegen denke mit meiner Vorstellungskraft, und alles, was mir Verstand, Kummer oder Antrieb sein sollte, wird für mich zu etwas Belanglosem, Fernem, wie dieser leblose See, auf dem das letzte Licht der Sonne vergehend treibt.
Ich hielt inne, und das Wasser kräuselte sich. Ich dachte nach, und die Sonne zog sich zurück. Ich schließe meine langsamen, schläfrigen Augen, und in meinem Inneren ist nur mehr eine Seenlandschaft, in der die Nacht aufhört, Tag zu sein, allmählich und dunkelbraun schimmernd auf dem Wasser, aus dem Algen aufsteigen.
Ich schrieb und sagte nichts. Ich habe den Eindruck, was existiert, existiert nur anderswo, jenseits der Berge, und daß dort große Reisen auf uns warten, hätten wir das Herz, sie anzutreten.
Ich bin erloschen wie die Sonne in meiner Landschaft. Von allem Gesagten und Gesehenen bleibt nur tiefe Nacht, erfüllt mit leblosem Seenglanz – eine Ebene ohne Wildenten, tot, fließend, feucht und finster.
340
Ich glaube nicht an Landschaften. Jawohl. Ich sage das nicht, weil ich an Amiels »Jede Landschaft ist ein Seelenzustand« glaube, eine der besseren Formulierungen seiner unerträglichen Manie zur Verinnerlichung. Ich sage das, weil ich nicht daran glaube.
341
Tag für Tag registriere ich in meiner schändlich tiefen Seele die Eindrücke, welche die äußere Substanz meines Bewußtseins von mir bilden. Ich fasse sie in unstete Worte, die mich, kaum schreibe ich sie nieder, verlassen und ihre eigenen Wege gehen über Bilderhänge und -wiesen, über Begriffsalleen und durch Verwirrung. Und all dies nützt mir nichts, da nichts mir nützt. Doch schreiben beruhigt mich, es ist wie ein Luftholenkönnen für einen, der an Atemnot leidet.
Manche kritzeln zerstreut Striche und absurde Namen auf das Löschblatt ihrer Schreibunterlage. Diese Seiten hier sind das Gekritzel meines intellektuellen Unbewußtseins meiner selbst. Ich schreibe sie schläfrig dahin, fühle mich wie ein Katze in der Sonne und lese sie bisweilen mit einem leicht überraschten Erstaunen wieder, als hätte ich mich plötzlich einer seit langem vergessenen Sache erinnert.
Wenn ich schreibe, besuche ich mich, feierlich. Ich habe spezielle Kammern, an die ein anderer sich in den Zwischenräumen meiner Vorstellung erinnert, dort vergnüge ich mich mit dem Analysieren dessen, was ich nicht fühle, und studiere mich selbst so eingehend wie ein Bild in einer dunklen Ecke.
Noch bevor ich zur Welt kam, verlor ich mein altes Schloß. Noch bevor ich war, verkaufte man die Tapisserien aus dem Palast meiner Ahnen. Mein Herrenhaus aus der Zeit vor meinem Leben ist verfallen, und nur in seltenen Augenblicken, wenn in mir der Mond mit seinem Licht über dem Schilf am Flußrand aufgeht, fröstelt mich vor Sehnsucht nach jenem Ort, an dem die zahnlosen Mauerreste sich schwarz gegen den dunkelblauen Himmel abheben, der zu einem milchigen Gelb verblaßt.
Ich erkenne mich sphinxhaft selbst. Und aus dem Schoß der Königin, die ich vermisse, rollt wie ein kleines Mißgeschick ihrer unnützen Stickerei das vergessene Knäuel meiner Seele. Es rollt unter die Kommode mit den Intarsien, und etwas in mir folgt ihm mit dem Blick, bis es entschwindet, in einem tiefen, tödlichen Entsetzen.
342
2 . 5 . 1932
Ich schlafe nie: Ich lebe und träume, oder genauer, ich träume im Leben und im Schlaf, der gleichfalls Leben ist. In meinem Bewußtsein gibt es keine Unterbrechung: Ich nehme wahr, was mich umgibt, solange ich noch nicht schlafe oder solange ich nicht gut schlafe, und beginne zu träumen, sobald ich wirklich schlafe. So bin ich ein beständiges Sich-Entfalten zusammenhängender oder unzusammenhängender Bilder, die stets vorspiegeln, sie gehörten zur Außenwelt; einige schieben sich zwischen die Menschen und das Licht, wenn ich wach bin, andere zwischen Trugbilder und die sichtbare
Weitere Kostenlose Bücher