Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
nicht mehr untergeht.
74
Gewitter
Zwischen den stillstehenden Wolken war das Blau des Himmels beschmutzt von einem durchscheinenden Weiß.
Hinten im Büro hielt der Dienstmann mit dem Verschnüren des ewigen Paketes inne …
»So ein Gewitter habe ich bisher nur einmal erlebt«, konstatierte er statistisch.
Eine kalte Stille. Als hätte man die Straßengeräusche mit einem Messer zerschnitten. Es war wie ein kosmisches Aussetzen der Atmung, ein allgemeines, langanhaltendes Unwohlsein. Das gesamte Universum stand still. Für Augenblicke, endlose Augenblicke. Stille schwärzte das Dunkel.
Plötzlich, lebendiger Stahl […]
Wie menschlich das metallische Bimmeln der Elektrischen! Wie fröhlich die Landschaft schlichten Regens auf der Straße, auferstanden aus dem Abgrund!
O Lissabon, du meine Heimstatt!
75
Um die Wonne und den Schrecken der Geschwindigkeit zu empfinden, benötige ich weder schnelle Automobile noch schnelle Züge. Mir genügen eine Straßenbahn und das erstaunliche Abstraktionsvermögen, das ich besitze und pflege.
In einer fahrenden Straßenbahn erlaubt mir meine analytische Kapazität – stets vorhanden und allzeit abrufbar –, die Vorstellung, die ich von der Straßenbahn und von der Geschwindigkeit habe, zu trennen, ja, so gänzlich zu trennen, daß sie zu zwei verschiedenen Real-Dingen werden. Ist dies geschehen, fahre ich nicht mehr in der Straßenbahn, sondern in ihrer reinen Geschwindigkeit. Und sollte es mich, dessen müde geworden, nach einem Geschwindigkeitsrausch gelüsten, kann ich diese Idee in die reine Nachahmung von Geschwindigkeit übertragen und sie nach Belieben erhöhen oder verringern, ja, selbst über die schnellstmögliche Geschwindigkeit von Zügen hinaus vergrößern.
Mich wirklichen Gefahren auszusetzen macht mir angst, doch verstört mich weniger das übermäßige Angstgefühl als vielmehr die übermäßige Aufmerksamkeit für meine Empfindungen, sie behindert und entpersönlicht mich.
Ich gehe nie auf eine Gefahr zu. Ich habe Angst, der Gefahren überdrüssig zu werden.
Ein Sonnenuntergang ist ein intellektuelles Phänomen.
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Ich denke zuweilen (mit zwiespältigem) Vergnügen über die künftige Möglichkeit einer Geographie unseres Bewußtseins von uns selbst nach. Meines Erachtens wird der künftige Historiker eigener Empfindungen möglicherweise in der Lage sein, eine exakte Wissenschaft aus seinem Verhalten gegenüber seinem Bewußtsein von der eigenen Seele zu machen. Einstweilen stehen wir noch ganz am Anfang dieser schwierigen Kunst, die immer noch eine Kunst ist, eine Chemie der Empfindungen in ihrem vorerst noch alchimistischen Stadium. Der Wissenschaftler von übermorgen wird sein Innenleben einer überaus kritischen Betrachtung unterziehen. Er wird sich als das Präzisionsinstrument verstehen, mit dem er es analysiert. Ich wüßte nicht, was gegen den Stahl und die Bronze des Denkens als Präzisionsinstrument zur Selbstanalyse spräche. Ich meine damit Stahl und Bronze, die wirklich Stahl und Bronze sind, jedoch des Geistes. Vielleicht ist dies das einzig angemessene Material. Vielleicht wird man sich mit dieser Idee eines Präzisionsinstruments näher befassen und sie konkret veranschaulichen müssen, um eine strenge innere Analyse vornehmen zu können. Natürlich wird man auch den Geist auf eine Art wirklicher Materie reduzieren müssen, mit einer Art Raum, in dem er existieren kann. All dies hängt davon ab, inwieweit wir unsere inneren Empfindungen verfeinern und schärfen können, die, bis zum Äußersten ausgeschöpft, zweifellos in uns einen ebenso wirklichen Raum schaffen oder offenbaren wie den Raum, der von materiellen Dingen besetzt und als Ding unwirklich ist.
Ich weiß nicht einmal, ob dieser innere Raum nicht nur eine neue Dimension des anderen Raumes sein wird. Vielleicht gelangt die künftige wissenschaftliche Forschung zu der Erkenntnis, daß alle Wirklichkeiten die Dimensionen ein und desselben Raumes sind, der daher weder materiell noch geistig ist. In der einen Dimension leben wir als Körper, in der anderen als Seele. Und vielleicht gibt es noch weitere Dimensionen, in denen wir andere, ebenfalls wirkliche Facetten unserer selbst leben. Bisweilen mache ich mir einen Spaß daraus und lasse mich von der müßigen Überlegung gefangennehmen, wohin dieses Erforschen wohl führen könnte.
Vielleicht wird man entdecken, daß, was wir Gott nennen und was sich so offenkundig auf einer anderen Ebene jenseits aller Logik und
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