Das Buch der Vampire 01 - Bleicher Morgen
auf dem sie ihre Brille, ihr Kruzifix und einen polierten Pflock aus Weißdornholz verwahrte.
Alte Gewohnheiten sterben nie.
Kritanu prüfte Victoria hier im kalari , dem blickdicht verhangenen Ballsaal der Gardellas, der zum Übungsraum umfunktioniert worden war, gerade auf Herz und Nieren. Ein paar ihrer dunklen Locken hatten sich aus ihrer Frisur gelöst, genauso wie es bei Eustacia der Fall gewesen war, als sie - ach, Jahrzehnte früher - für die Vampirjagd trainiert hatte. Victoria trug während dieser Übungseinheiten Röcke, da diese aufgrund des strengen Diktats der Gesellschaft meistens ihre Bekleidung sein würden. Eustacia wusste, dass es in Hosen viel leichter war, zu springen und zu treten, doch das würde später folgen, sobald Victoria anfing, die chinesische Kampfkunst des qinggong zu erlernen, die es ihr ermöglichen würde, praktisch durch die Luft zu fliegen.
Victorias Porzellanteint war gerötet, Stirn und Hals feucht von Schweiß und der Ausdruck auf ihrem Gesicht mörderisch.
Eustacia konnte ihr nicht verdenken, dass sie wütend war. Maximilian hatte den denkbar schlechtesten Zeitpunkt gewählt, sie über seine Existenz in Kenntnis zu setzen. Andererseits war das typisch für Max. Für ihn war alles entweder schwarz oder weiß, wohingegen die meisten anderen Menschen, Eustacia eingeschlossen, in der Lage waren, verschiedene Abstufungen von Grau zu erkennen. Es machte das Leben einfacher, wenn man Anthrazit von einem hellen Nebelgrau unterscheiden konnte.
Victoria hatte sich während ihrer Ausbildung und ihres Trainings - oder kalaripayattu - unter Kritanu im Monat vor ihrem Debüt als überaus vielversprechend erwiesen, doch da sie bis dato noch nie einem waschechten Vampir begegnet war, hatte Eustacia es für nötig befunden, für ihre Feuertaufe einen Notfallplan in petto zu halten. Wie sich inzwischen herausgestellt hatte, war eine solche Vorsichtsmaßnahme überflüssig gewesen, hatte in der Tat vielleicht sogar für zusätzliche Verwirrung während des gestrigen Balls gesorgt. Doch noch einmal vor die Wahl gestellt, würde Eustacia wieder so entscheiden.
Der verletzte Stolz eines frischgebackenen Venators war, gemessen an der Sicherheit ihrer Gäste, nur ein geringer Preis.
Kritanu beobachtete mit seinen scharfen, dunklen Augen, wie Victoria in Angriffsstellung ging und dann in Aktion trat, indem sie um die eigene Achse kreiselte, mit dem Bein ausholte und den Fuß gegen einen Berg Kissen neben Eustacias Sessel drosch. Die Kissen segelten durch die Luft, und Victoria hielt inne; die Hände in die Hüften gestemmt, baute sie sich vor Eustacia auf. »Tante, um ein Haar hätte ich ihn gepfählt! Auch wenn es ihm recht geschehen wäre.«
»Beruhige dich, Victoria. Das ist Schnee von gestern. Wenn
du ein guter Venator werden willst, musst du lernen, nach vorn zu schauen und deinen Zorn und deine Erbitterung zu kontrollieren. Konzentration und Stärke, eine schnelle Auffassungsgabe und Mut... all diese Charaktereigenschaften besitzst du, doch musst du sie noch polieren. Du musst lernen, sie zu benutzen.«
Als ein Venator, der in direkter Linie von der ersten Generation der Gardellas abstammte, waren Victoria sämtliche Gaben und Instinkte angeboren, die sie brauchte, um ein ernst zu nehmender Vampirjäger zu werden. Über Ausdauer, Kraft und Schnelligkeit verfügte sie bereits, und so bestand der Zweck, warum Kritanu sie in verschiedenen Kampfkünsten unterrichtete, darin, diese Fähigkeiten zu verbessern und zu verfeinern … sie zum Vorschein zu bringen und Victoria zu zeigen, wie man sie benutzte. Und die vis bulla , die sie erhalten sollte, würde ihr noch zusätzlich Schutz und Stärke verleihen.
Victoria duckte sich und schoss herum, um Kritanu abzuwehren, der sie von hinten attackierte, wobei sie etwas murmelte, das stark nach: »Ich würde lieber ihm etwas polieren« klang, aber natürlich war Tante Eustacia nicht bereit, auf derartige Bemerkungen einzugehen.
Stattdessen gestattete sie sich das Vergnügen, ihren Geliebten und Gefährten dabei zu beobachten, wie er mit geschmeidigen, tödlichen Bewegungen Victorias Verteidigung durchbrach und sie unsanft zu Boden brachte. Kritanu, ein drahtiger, muskulöser Kalkuttaner, der auf die fünfundsiebzig zuging, war trotz seines Alters noch immer ein einschüchternder Gegner. Er trug ein Schutzamulett, das sich zwar von den vis bullae der Venatoren unterschied, ihm aber dennoch zusätzliche Kraft verlieh; doch auch ohne war er schnell
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