Das Buch der Vampire 01 - Bleicher Morgen
nicht im Mindesten stören würde.« Gwendolyns Grübchen kam zum Vorschein. »Der wohlgestaltete Rockley zum Beispiel. Oder Gadlock oder Tutpenney - trotz seines unglücklichen Namens.«
»Tutpenney?«
»Glauben Sie mir, er sieht viel besser aus, als sein Name vermuten
lässt.« Gwendolyn seufzte, dann fügte sie hinzu: »Und ich hatte mich so sehr darauf gefreut, mit dem Viscount Quentworth zu tanzen; vor der Tragödie natürlich.«
»Tragödie?«
»Haben Sie denn nicht davon gehört?« Gwendolyn griff nach ihrem behandschuhten Arm, und Victoria stellte überrascht fest, dass die Augen der Frau nervös geweitet waren. »Man hat ihn tot auf der Straße gefunden, in der Nähe seines Hauses. Es sah aus, als sei er von irgendeinem Tier angegriffen worden, das ihm beinahe den Kopf abgerissen hat. Bloß waren da ein paar seltsame Male auf seiner Brust, die nicht von einem Tier stammen konnten.«
Gwendolyn hatte nun Victorias ungeteilte Aufmerksamkeit. »Was denn für Male? Und wie können Sie überhaupt davon wissen? Sicherlich haben Ihre Mutter oder Ihr Vater Ihnen nichts davon erzählt.«
»Nein, natürlich nicht.Aber meine Brüder sind nicht sehr umsichtig bei der Wahl ihrer Gesprächsthemen, wenn sie erst ein paar Gläser Brandy intus haben, und ich habe keine großen Hemmungen, sie bei ihren Unterhaltungen zu belauschen. Das ist schließlich meine einzige Möglichkeit, irgendetwas Interessantes zu erfahren.« Sie sah Victoria unter ihren gesenkten, sandfarbenen Wimpern hervor an, als wollte sie ihre Reaktion testen.
»Wenn ich ältere Brüder - oder überhaupt Brüder - hätte, würde ich wahrscheinlich dasselbe tun«, meinte Victoria nachdenklich. »Aber wie die Dinge stehen, bin ich auf meine Tante Eustacia angewiesen, von der fast jeder denkt, dass sie im Oberstübchen nicht ganz richtig ist. Tatsächlich aber kann sie recht … erhellend sein. Was für Male?«
»Oh, ja... da waren drei X auf seiner Brust. Und ich glaube nicht, dass er das erste Opfer mit dieser Art von Markierung war...« Gwendolyn hätte vermutlich weitergesprochen, doch sie wurde unterbrochen.
»Victoria«, ertönte eine schrille Stimme, in der kaum verhohlene Aufregung mitschwang. »Ich möchte dir gern jemanden vorstellen.«
»Wenn Sie mich nun entschuldigen würden, Miss Grantworth«, sagte Gwendolyn. »Die Herzogin von Farnham ist auf dem Weg zu Ihnen, und dort drüben steht Lord Tutpenney und sieht ganz verloren aus. Genießen Sie Ihr Debüt.«
Victoria drehte sich um und sah Lady Winifred, auf deren rundem Grübchengesicht ein erwartungsvolles Lächeln leuchtete. »Darf ich dir meine Schwägerin, Lady Mardemere, ihren Gemahl, Lord Mardemere... und seinen Vetter, Lord Phillip de Lacy, den Marquis von Rockley vorstellen?«
Mit einem Schlag ließ die beharrliche Kälte in Victorias Nacken nach. Eine warme Woge durchflutete sie, von den Wangen über den Hals bis hinunter zu ihrem Dekolleté. Sie bezähmte den Drang, nach unten zu sehen, um festzustellen, ob ihre Haut nun eine dunklere Tönung hatte als ihr Kleid.
»Es ist mir ein Vergnügen, Miss Grantworth«, sagte Lady Mardemere gerade. »Was für ein herrlicher Andrang zu Ehren Ihres Debüts! Ihre Mutter muss überglücklich sein.«
»Das ist sie tatsächlich«, entgegnete Victoria, bevor sie sich umwandte, um vor dem Viscount Mardemere zu knicksen. »Ich hatte noch nicht einmal Gelegenheit, alle zu begrüßen.« Und dann blickte sie in die tief liegenden, schwerlidrigen Augen des Marquis von Rockley.
Lady Gwendolyn hatte nicht übertrieben. Wohlgestaltet reichte nicht annähernd aus, um den Mann zu beschreiben, der nun vor ihr stand und ihre Hand an die Lippen hob. Rockley, in dessen vollem, braunem Haar goldene Strähnen schimmerten, war, als er den Kopf neigte, um ihren Handrücken zu küssen, noch immer so groß wie alle anderen Männer im Saal. »Wenn Sie bislang noch nicht alle begrüßt haben, darf ich dann zu hoffen wagen, dass auf Ihrer Karte noch ein Tanz frei ist?« Seine Stimme entsprach seinem Aussehen - sie war klar, ruhig und glatt -, doch seine Augen verhießen etwas anderes. Etwas, durch das ihr plötzlich noch wärmer wurde. Und... er kam ihr seltsam vertraut vor.
»Es ist tatsächlich noch einer frei, allerdings erst einer der späteren. Nach dem Abendessen, falls Sie beabsichtigen, so lange zu bleiben.« Victoria sah ihn unter gesenkten Wimpern hervor an. Sie wusste nicht, woher sie ihren Mut nahm, doch schien sich der Marquis nicht an ihrer Kühnheit
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