Das Buch der Vampire 01 - Bleicher Morgen
zu stören.
»Auch wenn ich keine Ahnung habe, wie ich mir die Zeit bis dahin vertreiben soll«, erwiderte er mit bedeutungsvollem Blick, »werde ich auf jeden Fall warten.«
Plötzlich fühlte sie die Kälte zurückkehren, spürte die Aura von jemandem. Und er beobachtete sie …
Sie löste ihre Hand aus Rockleys, wandte sich abrupt um und ließ den Blick über die Menge wandern. Bei einer kleinen Gruppe von Leuten am anderen Ende des Raums hielt sie inne.
»Victoria?« Wie von fern hörte sie das Erstaunen in Lady Winifreds Stimme, gefolgt von Rockleys Echo, als er fragte: »Miss Grantworth? Ist alles in Ordnung?«
Dort. Er war dort drüben... Etwa ein Dutzend Leute standen,
die Gesichter einander zugewandt, redend, lachend und gestikulierend, im Halbdunkel des Kerzenlichts unter der gewundenen Treppe, die Victoria heruntergekommen war.
Und dann sah sie ihn. Seine Augen waren auf sie gerichtet, während er sich gleichzeitig lächelnd zu der schlanken, blonden Frau neben ihm hinunterbeugte, mit der er sich gerade unterhielt. Er war so groß und dunkel, dass er durch eine schlichte Bewegung, bereits durch das bloße Neigen seines Kopfes Macht verströmte. Unübersehbar entzückt über seine Aufmerksamkeit strahlte die Blondine zu ihm hoch und ließ dabei die Hand über seinen Unterarm gleiten - nicht ahnend, in welcher Gefahr sie schwebte.
Ebenso ahnungslos, wie Victoria es noch vor ein paar Wochen gewesen war.
»Ja, natürlich«, zwang sie sich, heiter zu antworten, während sie den Blick wieder auf Rockley und Lady Winifred richtete. »Ich dachte für einen Moment, meine Mutter würde mich zu sich winken.« Eine schwache Erklärung, aber da sie sie angeboten hatte, würde sie auch akzeptiert werden. »Bitte verzeihen Sie mir meine Unaufmerksamkeit, Lord Rockley.« Sie lächelte ihn an, als ihr plötzlich bewusst wurde, dass er wieder ihre Hand hielt. »Es war mir ein Vergnügen, Sie kennen zu lernen. Ich freue mich schon darauf, später am Abend mit Ihnen zu tanzen.«
Er antwortete mit einem bezaubernden Lächeln und einer knappen Verbeugung. »Ich werde dem Moment mit großer Ungeduld entgegenfiebern.«
In diesem Moment fühlte Victoria - mehr als dass sie es tatsächlich sah -, wie der dunkelhaarige Mann und seine Begleiterin ihren Standort unter der Treppe verließen. Der Nacken ihres
unbedeckten Halses war kalt, und ihre Finger begannen zu kribbeln. Die schlanke, blonde Frau blickte mit einem leuchtenden Lächeln zu ihm auf, während sie sich in Richtung der Türen bewegten, die zur Terrasse führten. Falls sie nach draußen gingen …
Victoria nahm die Verfolgung auf, indem sie sich mit gezielten Schritten durch die Menge schlängelte und all jenen auswich, die sie aufhalten wollten, um mit ihr zu plaudern. »Verzeihung«, sagte sie, als eine besonders respekteinflößende ältere Dame versuchte, sich ihr in den Weg zu stellen. »Ich muss meine... meine Tante finden, bevor sie sich für den Abend zurückzieht.«
Da der Vampir alle anderen Gäste überragte, gelang es Victoria, ihn im Auge zu behalten, während das Paar sich auf die Glastüren zubewegte. Zweifellos hatten sie vor, nach draußen zu gehen, um frische Luft zu schnappen.
Darauf hoffend, dass ihre Mutter nicht bemerkt hatte, wie sie schnurstracks durch den Ballsaal geeilt war, glitt Victoria hinaus auf die Terrasse. Es würde sich schwerlich erklären lassen, dass sie ihren eigenen Ball verlassen hatte, um draußen spazieren zu gehen.
Aber noch schlimmer wären die Folgen für die zierliche Blondine, wenn Victoria nicht eingriff.
Auf lautlosen Sohlen hastete sie über die geziegelte Terrasse und hielt sich dabei im Schatten des geräuschvollen, gut beleuchteten Hauses. Neben einer Statue der Aphrodite blieb sie stehen, um nach Stimmengemurmel zu lauschen, dann spähte sie um den kalten Steinsockel herum, um festzustellen, ob sie den Mann und sein auserwähltes Opfer sehen konnte. Sie musste
sich beeilen; aus Furcht, entdeckt zu werden, würde er keine Zeit verlieren.
Dann kam ihr ein Gedanke, und sie ließ die Hand unter ihre seidigen, fließenden Röcke gleiten, um den Holzpflock herauszuziehen, den sie in ihr Strumpfband gesteckt hatte. Sie umfasste ihn so, wie Eustacia es ihr gezeigt hatte, bevor sie den schützenden Schatten verließ, den die Statue spendete, und mit gespitzten Ohren den Hauptweg entlangeilte.
Plötzlich hörte sie ein kehliges Murmeln, gefolgt von einem heiseren Lachen. Sie hielt sich rechts und bewegte sich
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