Das Buch der Vampire 02 - Schwärzeste Nacht
einem Wutschrei wirbelte er, die fleischige Hand noch immer um den Hals des Mädchens gelegt, zu ihr herum... und sah, wer ihn da belästigt hatte. Langsam ließ er das Mädchen los, das zu Boden sackte, und streckte den Arm nach Victoria aus.
Sie war bereit. Ihr Blut pulsierte; sie brachte die Hände in Position und ging, so wie Kritanu es ihr beigebracht hatte, in die Knie, um einen festen Stand zu haben. Der Zorn, der seit
Wochen in ihr schwärte, brodelte an die Oberfläche. Ihr Atem ging schneller.
Mit einem bösartigen Grinsen musterte sie der Mann, dann stürzte er sich auf sie.Victoria wartete bis zum allerletzten Moment, dann machte sie einen geschmeidigen Ausfallschritt, packte seinen ausgestreckten Arm und nutzte die Kraft seines Gewichts, um ihn von sich zu schleudern. Die winzige vis bulla , die sie trug, verlieh ihr übermenschliche Stärke und machte sie so flink wie die Untoten, gegen die zu kämpfen sie gewöhnt war; die vis bulla versetzte sie in die Lage, diesen Mann, der dreimal so schwer war wie sie, mit dem Gesicht voran gegen die Ziegelmauer zu schleudern. Er prallte mit einem befriedigenden Hmpf dagegen, aber Victoria war noch nicht fertig mit ihm; sie war nicht bereit, ihre explodierenden Gefühle jetzt schon zu kontrollieren. Ohne sich um den fassungslosen Blick des jungen Mädchens zu kümmern, das sich ein Stück von dem Geschehen entfernt hatte, erteilte sie dem Möchtegern-Vergewaltiger eine Lektion. Ihre Nerven surrten vor Energie, ihr Atem ging in kurzen, abgehackten Stößen, und der Rand ihres Blickfelds färbte sich rot, als sie ihm die Faust gegen die Wange drosch. Er taumelte, fing sich jedoch ab, dann schwang er mit einem gutturalen Wutschrei seinen Arm, der dicker war als ihr Oberschenkel, auf sie zu.Victoria blockte ihn mit ihrer starken, schlanken Hand ab, dann versetzte sie ihm mit der anderen Faust einen weiteren Hieb ins Gesicht. In seiner Miene spiegelten sich Überraschung und Erschütterung, aber er duckte sich unter ihrem Schlag weg, machte eine blitzschnelle Bewegung, und als er sich wieder aufrichtete, funkelte ein Messer in seiner Hand.
Plötzlich drehte sich die Welt ganz langsam, und rasend schnell zugleich.
Victoria erinnerte sich später daran, dass sie lächelte, während sich ganz langsam ein Gefühl der Befriedigung in ihr breit machte, als sie nach ihrem eigenen Messer griff. Sie erinnerte sich an die Leichtigkeit, mit der sie es aus dem Strumpfband an der Außenseite ihrer Hosen zog, daran, wie es sich in ihrer Handfläche anfühlte... gar nicht so anders als das Gewicht und der Umfang eines Pflocks. Eines Eschenholzpflocks.
Es war, als würde sie nach Hause zurückkehren. Es war, als wäre sie aus einem tiefen, dunklen Kerker geflohen. Sie stürzte in die Freiheit.
Sie stieß zu und stach und schlitzte. Bilder blitzten in ihrem Kopf auf, als sie, wie Kritanu es sie gelehrt hatte, von einer Position in die nächste glitt, all jene Bewegungsabläufe durchspielte, die ihr in den letzten Monaten zur zweiten Natur geworden waren. Ihre Erinnerungen - an Phillip, an Lilith, an die unzähligen rotäugigen Vampire, gegen die sie gekämpft hatte - verschmolzen und vermischten sich allesamt mit dem Gesicht dieses Angreifers, das noch immer wie erstarrt war vor Entsetzen, dann vor Schmerz... und schließlich Leere.
Leere.
Aber erst als sie den Arm hob, um erneut zuzustechen, und dabei den mattroten Streifen Blut auf den Sehnen ihrer Hand bemerkte, kam Victoria wieder zu sich.
Fassungslos starrte sie auf ihre Hand. Da sollte kein Blut sein. Vampire bluteten nicht, wenn man sie pfählte.
Sie stellte fest, dass sie keine Luft mehr bekam, dass sie aus ihren Lungen entwichen war und ihr Körper bei jedem ihrer Versuche, einzuatmen, erbebte. Ihre Schultern zuckten auf und ab; ihr Brustkorb brannte, Arme und Beine zitterten.
Victoria sah nach unten. Sie hielt ein Messer, keinen Pflock.
Ein Messer, von dem Blut tropfte. Ihre Hand war nicht nur befleckt, sondern in einem grauenhaften Muster aus Blutspritzern besprenkelt. Sie kniete... kniete über einem massigen Körper, der sich nicht mehr rührte.
Seine Augen standen offen, waren blicklos und glasig; Blut verfärbte sein Kinn und seine Wangen, ja, sogar seine Lippen, in demselben Muster wie ihre Hände. Seine Brust hob und senkte sich kaum noch.
Victoria starrte auf ihn herunter, dann kam sie behutsam auf die Füße.
Sie betrachtete ihr Messer. Sie hätte es fallen lassen, aber ihre Hände wollten den Griff
Weitere Kostenlose Bücher