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Das Buch der verlorenen Dinge

Das Buch der verlorenen Dinge

Titel: Das Buch der verlorenen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Connolly
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dem Kopf, umgeben von neugierigen Passanten – und ein paar Tauben –, die auf ihn hinunterstarrten, dicke weiße Wolken über den Köpfen wie leere Comic-Sprechblasen. Sein Vater sagte ihm, er sei ohnmächtig geworden, und David nahm an, dass es wohl so gewesen war, nur hörte er jetzt Stimmen und Geflüster, wo vorher keine Stimmen und kein Geflüster gewesen waren, und er erinnerte sich schwach an eine bewaldete Landschaft und das Geheul von Wölfen. Er hörte, wie Rose fragte, ob sie etwas tun könne, um zu helfen, und sein Vater antwortete, es sei schon in Ordnung, er würde David nach Hause und ins Bett bringen. Sein Vater winkte ein Taxi herbei, das sie zu ihrem Auto fahren sollte. Bevor sie gingen, sagte er zu Rose, er würde sie später anrufen.
    Als David in der Nacht in seinem Zimmer lag, mischten sich die Stimmen der Bücher unter das Gemurmel in seinem Kopf. Er musste den Kopf unter das Kissen stecken, um den Lärm ihres Geplappers zu dämpfen, als die ältesten unter den Geschichten aus ihrem nächtlichen Schlummer erwachten und nach Orten suchten, an denen sie wachsen konnten.
     
     
    Dr. Moberleys Praxis befand sich in einem Reihenhaus in einer mit Bäumen bewachsenen Straße im Zentrum von London, und im Innern des Gebäudes war es sehr still. Der Boden war mit teuren Teppichen ausgelegt, und an den Wänden hingen Gemälde von Schiffen auf See. Eine ältere Sekretärin mit ganz weißem Haar saß im Wartezimmer an einem Schreibtisch, sortierte Papiere, tippte Briefe und nahm Telefonanrufe entgegen. David saß nicht weit von ihr entfernt auf einem breiten Sofa, sein Vater neben ihm. In der Ecke tickte eine Standuhr. David und sein Vater schwiegen. Hauptsächlich deshalb, weil es so still war, dass die Sekretärin alles gehört hätte, was sie sagten, aber David hatte auch das Gefühl, dass sein Vater böse auf ihn war.
    Seit dem Nachmittag am Trafalgar Square hatte es noch zwei weitere Anfälle gegeben, jeder länger als der vorige, und jeder hatte noch mehr seltsame Bilder in Davids Kopf hinterlassen: eine Burg, von deren Zinnen Banner flatterten, ein Wald voller Bäume, aus deren Rinde rötlicher Saft lief, und eine nur schemenhaft erkennbare Gestalt, gekrümmt und bösartig, die durch die Schatten dieser seltsamen Welt huschte und wartete. Davids Vater war mit ihm zu Dr. Benson gegangen, ihrem Hausarzt, doch Dr. Benson hatte bei David nichts Ungewöhnliches feststellen können. Er schickte David zu einem Spezialisten in einem großen Krankenhaus, der mit Lampen in Davids Augen leuchtete und seinen Schädel untersuchte. Er stellte David ein paar Fragen, dann seinem Vater noch etliche mehr, von denen einige Davids Mutter und ihren Tod betrafen. Man hatte David gebeten, draußen zu warten, während sie sich unterhielten, und als Davids Vater aus dem Sprechzimmer kam, sah er wütend aus. Und so waren sie bei Dr. Moberley gelandet.
    Dr. Moberley war ein Psychiater.
    Neben dem Schreibtisch der Sekretärin ertönte ein Summer, und sie nickte David und seinem Vater zu. »Er kann jetzt hineingehen«, sagte sie.
    »Dann mal rein mit dir«, sagte Davids Vater.
    »Kommst du nicht mit?«, fragte David.
    Sein Vater schüttelte den Kopf, und da begriff David, dass er bereits mit Dr. Moberley gesprochen hatte, vielleicht am Telefon.
    »Er möchte dich allein sehen. Keine Angst. Ich warte hier auf dich.«
    David folgte der Sekretärin in einen anderen Raum, viel größer und eleganter als das Wartezimmer, mit weichen Sesseln und Sofas eingerichtet. An den Wänden standen Regale mit Büchern, allerdings waren es andere als die, die David las. David meinte, er könne die Bücher miteinander reden hören, als er hereinkam. Er verstand nicht viel von dem, was sie sagten, aber sie sprachen g-a-n-z l-a-n-g-s-a-m, als ob das, was sie mitzuteilen hatten, sehr wichtig oder derjenige, mit dem sie sprachen, sehr begriffsstutzig war. Einige der Bücher schienen in einem leiernden Tonfall miteinander zu debattieren, so wie Fachleute im Radio manchmal redeten, wenn sie von anderen Fachleuten umgeben waren, die sie mit ihrer Intelligenz beeindrucken wollten.
    Die Bücher irritierten David sehr.
    Ein kleiner Mann mit grauem Haar und grauem Bart saß hinter einem antiken Schreibtisch, der viel zu groß für ihn wirkte. Er trug eine rechteckige Brille mit einer Goldkette daran, damit er sie nicht verlor. Eine rot-schwarze Fliege war eng um seinen Hals gebunden, und sein Anzug war dunkel und ausgebeult.
    »Willkommen«, sagte er.

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