Das Buch der verlorenen Dinge
seiner Hand hielt er etwas, das aussah wie ein geschwärzter Haken. Er gab ihn David. Das Ding war schwer und fühlte sich an, als wäre es aus Knochen.
»Das ist eine von den Krallen des Ungeheuers«, sagte Fletcher. »Falls je ein Mensch Zweifel an deinem Mut haben sollte oder du selbst das Gefühl hast, dass dich der Mut verlässt, nimm sie in die Hand und denk an das, was du hier vollbracht hast.«
David dankte ihm und verstaute die Kralle in seiner Tasche. Dann trieb Roland Scylla an, und sie ließen die Ruinen des Dorfes hinter sich zurück.
Schweigend ritten sie durch das Land des Zwielichts, das durch den Schnee noch gespenstischer wirkte. Alles wirkte wie in ein schwaches blaues Licht getaucht, das die Landschaft heller und fremder zugleich erscheinen ließ. Es war sehr kalt, und ihr Atem bildete dichte Wolken in der Luft. David spürte, wie die kleinen Härchen in seiner Nase überfroren, und die Feuchtigkeit seines Atems bildete Kristalle auf seinen Wimpern. Roland ritt langsam und machte einen Bogen um alle Gräben und Schneeverwehungen, aus Angst, dass Scylla sich verletzen könnte.
»Roland«, sagte David schließlich, »da ist etwas, das mir keine Ruhe lässt. Du hast mir gesagt, du wärst nur ein Soldat, aber ich glaube, das stimmt nicht.«
»Wie kommst du darauf?«, fragte Roland.
»Ich habe gesehen, wie du den Dorfleuten Befehle gegeben hast und wie sie dir gehorcht haben, selbst die, die dich nicht mochten.
Und dann dein Brustpanzer und dein Schwert. Erst dachte ich, die Verzierungen darauf wären nur aus Bronze oder gefärbtem Metall, aber dann habe ich gesehen, dass sie aus Gold sind. Das Sonnensymbol auf deinem Panzer und deinem Schild ist aus Gold, und auf der Scheide und dem Griff deines Schwertes ist ebenfalls Gold. Wie kann das sein, wenn du nur ein Soldat bist?«
Roland schwieg eine ganze Weile, dann sagte er: »Einst war ich mehr als ein Soldat. Mein Vater war Herr über ein großes Anwesen, und ich war sein ältester Sohn und sein Erbe. Aber er war unzufrieden mit mir und meiner Lebensweise. Es kam zum Streit, und in einem Wutanfall verbannte er mich aus seiner Gegenwart und von seinen Ländereien. Nicht lange danach begann meine Suche nach Raphael.«
David hätte gerne noch mehr gefragt, aber er spürte, dass alles, was die Verbindung zwischen Roland und Raphael betraf, sehr persönlich war. Weiter nachzubohren wäre unhöflich gewesen und hätte Roland verletzt.
»Und du?«, fragte Roland. »Erzähl mir mehr von dir und deinem Zuhause.«
Und das tat David. Er versuchte, Roland einige der Wunder seiner Welt zu erklären. Er erzählte ihm von Flugzeugen und Autos, von Filmen und vom Radio. Er sprach vom Krieg, von der Eroberung anderer Länder und von der Bombardierung von Städten. Falls Roland diese Dinge ungewöhnlich fand, so ließ er sich nichts davon anmerken. Er lauschte Davids Worten, wie ein Erwachsener den Geschichten eines Kindes lauschte, beeindruckt, was die Fantasie so alles hervorbringen konnte, aber nicht bereit, es für bare Münze zu nehmen. Er schien sich mehr dafür zu interessieren, was der Förster David über den König und dessen geheimnisvolles Buch erzählt hatte.
»Ich habe auch gehört, dass der König eine Menge über Bücher und Geschichten weiß«, sagte Roland. »Selbst wenn sein Königreich um ihn herum zusammenbricht, findet er doch immer die Zeit, sich über Geschichten zu unterhalten. Vielleicht hatte der Förster recht, dass er dich zu ihm geschickt hat.«
»Wenn der König so schwach ist, wie du sagst, was wird dann aus seinem Reich, wenn er stirbt?«, fragte David. »Hat er einen Sohn, der seine Nachfolge antritt, oder eine Tochter?«
»Nein, der König hat keine Kinder«, erwiderte Roland. »Er regiert schon sehr lange, schon seit vor meiner Geburt, aber er hat nie geheiratet.«
»Und vor ihm?«, fragte David, der sich schon immer für Könige und Königinnen und Königreiche und Ritter interessiert hatte. »War sein Vater König?«
Roland dachte angestrengt nach.
»Ich glaube, vor ihm gab es eine Königin. Sie war sehr, sehr alt, und sie verkündete, dass ein junger Mann, den niemand je zuvor gesehen hatte, der aber bald kommen würde, an ihrer statt über das Reich herrschen würde. Und genauso geschah es, jedenfalls nach alldem, was aus jener Zeit berichtet wurde. Nur wenige Tage nach der Ankunft des jungen Mannes wurde er zum König ernannt, und die Königin legte sich schlafen und wachte nie wieder auf. Es heißt, sie
Weitere Kostenlose Bücher