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Das Buch der verlorenen Dinge

Das Buch der verlorenen Dinge

Titel: Das Buch der verlorenen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Connolly
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sei geradezu dankbar gewesen, sterben zu können.«
    Sie kamen zu einem Bach, der in der plötzlich hereingebrochenen Kälte zugefroren war, und beschlossen, eine kurze Rast einzulegen. Roland schlug mit dem Griff seines Schwertes das Eis auf, damit Scylla von dem Wasser darunter trinken konnte. David ging ein wenig an dem Bach spazieren, während Roland etwas aß. David hatte keinen Hunger. Fletchers Frau hatte ihm an dem Morgen dicke Scheiben frisch gebackenen Brotes mit Marmelade zum Frühstück gegeben, und davon war er immer noch satt. Er setzte sich auf einen Felsen und suchte im Schnee nach Steinen, die er auf das Eis werfen konnte. Der Schnee war tief, und bald war sein ganzer Arm darin verschwunden. Seine Finger ertasteten ein paar Kiesel – da schoss plötzlich eine Hand aus dem Schnee und packte ihn am Oberarm. Sie war bleich und dünn, mit langen, eingerissenen Nägeln, und sie zog ihn mit enormer Kraft vom Felsen. David wollte um Hilfe schreien, doch sofort tauchte eine zweite Hand auf und hielt ihm den Mund zu. Er wurde in den Schnee gezogen, sodass er die Bäume und den Himmel nicht mehr sehen konnte, und die Hände hielten ihn fest umklammert. Unter seinem Rücken spürte er harten Boden, und er hatte das schreckliche Gefühl zu ersticken. Dann gab die Erde unter ihm nach, und er fand sich in einer Art Höhle wieder. Die Hände ließen ihn los, und ein Licht glomm in der Dunkelheit auf. Von oben hingen Baumwurzeln herab, die sanft über sein Gesicht strichen, und David sah drei Tunnelöffnungen, die alle von der Höhle abzweigten. In einer Ecke lagen vergilbte Knochen, und überall krabbelten Würmer und Käfer und Spinnen auf der feuchten, kalten Erde umher.
    Und da war der Krumme Mann. Er hockte in einer Ecke, in der einen bleichen Hand, die David nach unten gezogen hatte, eine Lampe, in der anderen einen riesigen schwarzen Käfer. Vor Davids Augen steckte sich der Krumme Mann das zappelnde Insekt in den Mund, mit dem Kopf zuerst, und biss es mittendurch. Er kaute auf dem Käfer herum, ohne David aus den Augen zu lassen. Die untere Hälfte des Käfers bewegte sich noch ein paar Sekunden, dann erstarrte sie. Der Krumme Mann bot sie David an. David konnte einen Teil der Innereien sehen. Sie waren weiß. Übelkeit überkam ihn.
    »Hilfe!«, schrie er. »Roland, bitte hilf mir!«
    Doch es kam keine Antwort. Die Schwingungen seiner Schreie führten nur dazu, dass Erde von der Höhlendecke herabrieselte und ihm auf den Kopf und in den Mund fiel. David spuckte sie aus und holte Luft, um erneut zu schreien.
    »Oh, das würde ich lieber nicht tun«, sagte der Krumme Mann. Er stocherte zwischen seinen Zähnen herum und zog ein langes, schwarzes Käferbein hervor, das in seinem Gebiss hängen geblieben war. »Der Boden hier ist nicht sonderlich fest, und mit dem ganzen Schnee obendrauf, tja, da weiß ich nicht, was passieren würde, wenn das alles auf dich drauffällt. Wahrscheinlich würdest du sterben, und nicht gerade auf angenehme Weise.«
    David machte den Mund zu. Er wollte nicht hier unten lebendig begraben werden, zusammen mit den Insekten und Würmern und dem Krummen Mann.
    Der Krumme Mann widmete sich jetzt der unteren Hälfe des Käfers und pulte den Rückenpanzer ab, sodass die Innereien vollständig bloßlagen.
    »Willst du wirklich nichts davon?«, fragte er. »Sie sind sehr lecker: außen knusprig und innen saftig. Manchmal allerdings ist mir nicht nach knusprig. Dann will ich nur saftig.«
    Er hob das Insekt an seinen Mund, saugte das Fleisch heraus und warf den Rest in die Ecke.
    »Ich dachte, wir beide sollten uns mal unterhalten«, sagte er, »ohne dass dein ›Freund‹ da oben uns unterbricht. Ich glaube, du hast den Ernst der Lage noch nicht ganz begriffen. Offenbar glaubst du immer noch, dass es dir hilft, dich mit jedem dahergelaufenen Fremden einzulassen, aber das wird es nicht, verstehst du. Ich bin der Grund, dass du noch lebst, nicht irgendein ungebildeter Förster oder ehrloser Ritter.«
    David konnte es nicht ertragen, dass über die beiden Männer, die ihm geholfen hatten, so abfällig gesprochen wurde. »Der Förster war nicht ungebildet«, sagte er. »Und Roland hat sich mit seinem Vater gestritten. Er ist nicht ehrlos.«
    Der Krumme Mann lächelte heimtückisch. »So, hat er dir das erzählt? Tss, tss. Hast du das Bild in seinem Medaillon gesehen? Raphael – so heißt doch der, den er sucht, oder? Was für ein hübscher Name für einen jungen Mann. Die beiden standen sich

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