Das Buch der verlorenen Dinge
des Hauses gewesen war? David erinnerte sich, wie er zu Hause mit dem unangenehmen Gefühl aufgewacht war, dass jemand oder etwas sein Gesicht berührt hatte, während er schlief. Und in Georgies Zimmer hatte manchmal ein merkwürdiger Geruch gehangen (jedenfalls merkwürdiger als der, den Georgie sonst verbreitete). War das vielleicht ein Zeichen dafür, dass der Krumme Mann dort gewesen war? War es möglich, dass der Krumme Mann während seiner heimlichen Besuche nie Georgies Namen gehört hatte? Und wieso war es überhaupt so wichtig für ihn, den Namen zu wissen?
»Ich will ihn aus deinem Mund hören«, sagte der Krumme Mann. »Es ist doch nur eine Kleinigkeit, nur ein klitzekleiner Gefallen. Sag ihn mir, und all das hier ist vorüber.«
David schluckte hart. Er wollte so gerne nach Hause zurück. Er brauchte nichts weiter zu tun, als Georgies Namen zu sagen. Was konnte das schon schaden? Er öffnete den Mund, doch der Name, der dann erklang, war nicht Georgies, sondern sein eigener.
»David! Wo bist du?«
Es war Roland. David hörte, wie jemand oben anfing zu graben. Der Krumme Mann kochte vor Wut über die Unterbrechung.
»Schnell!«, fauchte er. »Den Namen! Sag den Namen!«
Erde rieselte David auf den Kopf, und eine Spinne lief eilig über sein Gesicht.
»Sag schon!«, kreischte der Krumme Mann, dann brach die Decke über David zusammen, und er wurde unter einem Haufen Erde und Schnee begraben. Das Letzte, was er sah, war, wie der Krumme Mann in einen der Tunnel floh. David hatte Erde in Nase und Mund. Er versuchte zu atmen, doch dadurch rutschte sie ihm in die Kehle. Er drohte zu ersticken. Dann spürte er, wie zwei starke Hände ihn packten und nach oben an die klare, frische Luft zogen. Er konnte wieder sehen, aber er bekam noch immer keine Luft. Roland schlug David auf den Rücken, um die Erde und die Insekten aus ihm herauszutreiben. David hustete und spuckte Dreck und Blut und Galle und krabbelndes Getier, bis er wieder atmen konnte, dann ließ er sich in den Schnee sinken. Die Tränen froren auf seinen Wangen, und seine Zähne klapperten.
Roland kniete sich neben ihn. »David«, sagte er. »Sprich mit mir. Sag mir, was passiert ist.«
Sag schon. Sag schon.
Roland legte die Hand an Davids Wange, und David spürte, wie er zurückzuckte. Auch Roland hatte seine Reaktion bemerkt, denn er nahm sofort die Hand weg und wandte sich von dem Jungen ab.
»Ich will nach Hause«, flüsterte David. »Sonst nichts. Ich will einfach nur nach Hause.«
Und dann krümmte er sich im Schnee zusammen und weinte, bis er keine Tränen mehr in sich hatte.
23
Vom Marsch der Wölfe
David saß auf Scyllas Rücken. Roland ritt nicht mit ihm, sondern führte das Pferd wieder am Zügel über die Straße. Zwischen Roland und David herrschte eine unausgesprochene Spannung, und obwohl der Junge verstand, dass er Roland verletzt hatte, wusste er nicht, auf welche Weise er sich entschuldigen sollte. Die Andeutung, die der Krumme Mann über die Art der Beziehung zwischen Roland und dem verschwundenen Raphael gemacht hatte, mochte durchaus zutreffend sein, aber dass Roland nunmehr ähnliche Gefühle für ihn hegen sollte, konnte David nicht glauben. Tief in seinem Innern war er überzeugt, dass es nicht stimmte; Roland war ihm gegenüber stets freundlich gewesen, aber nicht mehr, und wenn er irgendwelche verborgenen Absichten hegte, hätte sich das längst gezeigt. Er bedauerte, dass er vor Rolands mitfühlender Geste zurückgewichen war, doch wenn er das aussprach, bewies er damit, dass die giftigen Worte des Krummen Mannes zumindest für einen winzigen Augenblick ihren Zweck erreicht hatten.
David hatte lange gebraucht, um sich von dem Vorfall zu erholen. Seine Kehle schmerzte beim Sprechen, und er hatte immer noch den Geschmack von Erde im Mund, obwohl er ihn mit dem eisigen Wasser des Baches ausgespült hatte. Erst nachdem er eine lange Zeit schweigend geritten war, schaffte er es, Roland zu erzählen, was dort unter der Erde geschehen war.
»Und das ist alles, was er von dir wollte?«, fragte Roland, als David den größten Teil des Gesprächs wiedergegeben hatte. »Er wollte, dass du ihm den Namen deines Halbbruders verrätst?«
David nickte. »Er hat gesagt, dann könnte ich wieder zurück nach Hause.«
»Glaubst du ihm?«
David überlegte einen Moment. »Ja«, sagte er. »Ich glaube, dass er mir den Weg zeigen könnte, wenn er wollte.«
»Dann musst du selbst entscheiden, was du tun willst. Aber
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