Das Buch der zwei Krähen. Historische Erzählung
die besoffenen Tagelöhner und Waschweiber störten, die allerorts das Bild des Geschehens bestimmten. So ging das seit zwei Tagen. Gestern Abend war ganz Mannheim im Vollrausch gewesen, in freudiger Erwartung des Jagdspektakels. In Schwetzingen, wo der Hof zurzeit residierte, war es nicht anders.
Heute Morgen, um sieben in der Früh, hatten sich die Hofkutschen von Schwetzingen nach Heidelberg begeben. Längs des Weges standen Soldaten und das toll gewordene Volk. Am Ende der Stadt wurden Barken auf dem Neckar bestiegen, die die Gäste flussaufwärts brachten. Acht Jachten waren für den Hofstaat bestimmt, die größte davon für den Kurfürsten und seine Gemahlin. Das ungleiche Paar winkte und parlierte und lächelte beim Besteigen des Schiffs. Man hätte beinahe meinen können, sie beide wären glücklich.
Dabei wusste ein jeder, wie die beiden einander hassten. Der Kurfürst hoffte seit Jahren, dass seine Ehefrau endlich sterben würde, damit er wieder heiraten und einen legitimen Nachfolger zeugen könnte. Die Kurfürstin hingegen war mit ihrem Hof im Oggersheimer Schloss geblieben, als ihr Gemahl nach München zog. Wenn er nun für Besuche in die Kurpfalz zurückkehrte und sie genötigt war, mit ihm für einige Wochen am Hofe in Mannheim oder Schwetzingen zu verweilen, verfluchte sie jeden Tag seiner Anwesenheit und stritt sich mit ihm öffentlich wegen jeder noch so kleinen Nichtigkeit.
Dieser aufgeblasene Pomp, mit dem man die einfältigen Kleingeister beeindrucken wollte! Jean Philippe hätte sich am liebsten übergeben. Auf der Ruine der Burg Reichenstein in Neckargemünd hatte man einen Aussichtsturm eigens für diesen Tag errichten lassen. Und oberhalb der Walkmühle hatte man zur Landschaftsverschönerung aus Holzbrettern und bemalten Leinwänden ein Ritterschloss aufgebaut. Daneben hatte man den ganzen Hügel bis zum Flussufer hinab umzäunt. Der untere Rand war in Form eines Bauernwirtshauses gestaltet worden. Durch dieses Gebilde würde das Wild rennen, wenn es vom Berg heruntergetrieben wurde, und in den Fluss springen. Einen Teil des Neckars hatte man abgesteckt und mit Holzplanken umfasst. Am Rande des Wasserbeckens befand sich eine Plattform, die auf zwei Schiffen montiert war. Darauf stand ein Zelt, der Jagdschirm, von dem aus das Kurfürstenpaar die schwimmenden Tiere erlegen würde. Selbstverständlich war es das Privileg des Kurfürsten und seiner Gattin, die Jagd durchzuführen, während Tausende Bürger danebenstanden und zuschauten. Mehr als dreihundert Landleute waren einen Monat lang beschäftigt gewesen, das Wild in Zwingern zusammenzutreiben.
Jean Philippe zog ein Tuch aus seiner Brusttasche und trocknete die Stirn, die unter all diesen abscheulichen Gedanken zu transpirieren begonnen hatte. Bald würde das Volk selbst zur Flinte greifen dürfen und Hirsche jagen.
»Vive la Révolution!«, rief er spontan aus und zuckte zusammen. Er sah sich um. Keinem der Höflinge um ihn herum schien seine unbedachte Bemerkung unter all dem Gerufe aufgefallen zu sein.
Er atmete aus und ging in Gedanken noch einmal seinen Attentatsplan durch.
Er hätte nicht gedacht, dass er so nervös sein würde an dem Tag, auf den er hingearbeitet hatte.
Lange Zeit sah es so aus, als wären die Attentatspläne gegen den Kurfürsten zerschlagen. Zuerst verlor die Bruderschaft der zwei Krähen mit den Jahren mehr an Mut und Unternehmungslust. Dann, 1784, als einige der Brüder bei einem Treffen gemeinsam dafür eingestanden waren, dass man etwas unternehmen müsse oder ansonsten die Bruderschaft auflösen sollte, kam es wenig später zur endgültigen Zerschlagung. Ein Geheimbund, der sich Die Illuminaten nannte, mit ähnlichen Zielen und Überzeugungen wie Die zwei Krähen, hatte den Zorn des Kurfürsten herausgefordert. Man warf ihnen vor, dass sie ein Attentat auf Carl Theodor planten. Ob das stimmte oder nur als Vorwand genutzt wurde, um sie zu verbieten?
Jean Philippe hatte nichts Genaues herausfinden können. Das Verbot der Illuminaten hatte eine Verfolgung aller Bündnisse zur Folge, die ohne landesherrliche Erlaubnis gegründet worden waren. Widersetzung wurde hart bestraft. Auch die Brüder der Zwei Krähen trafen sich nie wieder, aus Angst vor Entdeckung und davor, ein ähnliches Schicksal zu erleiden wie der ein oder andere Illuminat, der der Folter übergeben wurde.
Für Jean Philippe war dieses ängstliche Sichverstecken seiner Mitbrüder ein Gräuel. Er wollte handeln. Also hatte er versucht,
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