Das Buch der zwei Krähen. Historische Erzählung
eine der Frühlingsrosen aufblühte, die sie vorne am Zaun gepflanzt hatte, ging ihr Herz ein Stück auf. Anne hatte viele Stunden ihres Lebens aufgewendet, ihren Garten noch schöner zu gestalten und die Gewächse besser zu pflegen, damit sie nicht zugrunde gingen. Leider war es schwer möglich, in Stratford an Informationen über ausländische Gartenkunst oder gar an die Samen exotischer Pflanzen zu gelangen.
Anne sah sich noch einmal um. Es dämmerte bereits, also ging sie ins Haus. In der Küche traf sie Judith. In einem kleinen Topf bereitete sie Rotkohl für das Abendessen vor.
Sie begrüßten sich mit knappen Worten, dann widmete Judith sich wieder dem Kochen. Es machte Anne nichts aus, Zäune zu reparieren oder Ländereien und Häuser zu verwalten, aber sie war froh, dass ihre Tochter ihr die Küchenarbeit abnahm.
Anne stellte einen Brotkorb auf den Tisch, dann setzte sie sich, schenkte sich einen Becher Ale ein und wartete auf ihre Tochter.
Beim Essen sprachen sie kaum. Anne versuchte eine Unterhaltung zu beginnen und fragte, ob Judith heute auf dem Markt mit Thomas gesprochen hatte, dem Sohn des Wollhändlers. Es war offensichtlich, dass der junge Mann Judith schöne Augen machte.
„Bevor ich mit dem rede, beiße ich mir lieber die Zunge ab“, sagte Judith knapp.
Anne atmete tief ein. Wie sollte sie ein vernünftiges Wort mit Judith wechseln, wenn sie sich derart benahm? Judith war mittlerweile 25 Jahre. Zwar waren in diesen wirtschaftlich schweren Zeiten viele Mädchen in ihrem Alter unverheiratet. Die Wollkrise hatte in? Warwickshire großen Schaden angerichtet. Die jungen Leute brauchten Jahre, um die Besitztümer zusammenzubringen, die sie brauchten, um einen eigenen Haushalt zu unterhalten. Und selbst dann lebten viele noch immer bei ihren Eltern.
Aber die anderen ledigen Mädchen in der Stadt fingen in Judiths Alter wenigstens an, ernsthaft nach einem Mann zu suchen. So war der Lauf der Welt. Ihre jüngste Tochter konnte nicht auf ewig allein mit ihrer Mutter leben. Früher oder später würde sie einen Mann benötigen, der sie versorgte. Anne war nicht mehr die Jüngste mit ihren 54 Jahren. Was sollte mit oder aus ihrer Tochter werden, wenn sie einmal nicht mehr da war?
Judith ging früh zu Bett an diesem Abend. Das war Anne recht. Sie wollte sich in Ruhe der Abrechnung der Pachtverträge widmen. Das Rechnen hatte sie sich, ebenso wie die Grundlagen des Schreibens und Lesens, selbst beigebracht. Darauf war sie stolz.
Anne ging von der Küche in das große Arbeitszimmer im Erdgeschoss, in dem sie ihre Unterlagen verwaltete. Sie lief zum Kamin, einer der zehn Feuerstellen im Anwesen, und entzündete das Holz, das bereits darin lag. Zusätzlich nahm sie eine Öllampe und stellte sie auf den Schreibpult. Als reichste Frau im Ort musste sie mit Lampenöl nicht sparsam umgehen. Somit konnte sie im Winter und Frühjahr auch am Abend ihrer Arbeit nachgehen.
Sie hatte sich gerade hingesetzt und einen Stapel Papiere auf dem Tisch ausgebreitet, als sie vor dem Haus Pferdegetrappel hörte. Sie stand auf, die Lampe in einer Hand, und blickte aus dem Fenster. Der Nebel war in der Zwischenzeit so dicht zusammengezogen, dass sie vor dem Haus nur schwerlich etwas erkennen konnte. Das Getrappel hörte auf. Dafür vernahm sie deutlich das Schnauben eines Pferdes und das Scharren von Hufen. Anscheinend hatte der Reiter – oder waren es mehrere? – direkt vor ihrem Haus gehalten. Wer konnte das sein? Um diese Uhrzeit.
Anne trat in den Flur und ging zur Eingangstür. Vorher hatte sie sich mit einem Schürhaken bewaffnet, den sie von der Feuerstelle mitgenommen hatte. Das Werkzeug war noch wie neu, die aus Zink geschmiedete Spitze beinahe jungfräulich. Damit konnte man einem Angreifer im Notfall einen gehörigen Stoß versetzen.
Sie legte den Schürhaken kurz ab, um die Tür zu öffnen. In der linken Hand hielt sie noch immer die Öllampe. Vorsichtig trat sie auf die Türschwelle, nahm ihre Waffe wieder an sich.
»Wer da?«
Sie rief in den Nebel, in das Nichts hinein. Der Schein der Lampe erhellte den milchigen Dunst, doch erkennen konnte sie nichts. Zwei Reiter traten mit ihren Pferden aus dem Nebel. Anne konnte ihre dunklen Silhouetten deutlich ausmachen. Die Gesichter lagen noch im Dunkel.
Die beiden sagten kein Wort der Begrüßung. Anne schloss den Griff um den Schürhaken in ihrer Hand fester. Einer der beiden Reiter stieg von seinem Pferd und kam mit langsamen Schritten auf sie zu. Anne
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