Das Buch des Todes: Roman (German Edition)
geparkt hatte. Obwohl es direkt vor der Bibliothek freie Parkplätze gegeben hätte, hatte Sanchez den Wagen auf einem Behindertenparkplatz abgestellt. Seiner Meinung nach bekamen viel zu viele Leute einen Behindertenausweis, die ihn überhaupt nicht verdienten. Und jetzt, wo er sich das als Polizist leisten konnte, hatte er sich auf seine gemeine Art dafür gerächt. Im Moment bereute er diese Entscheidung allerdings wieder, weil ein eisiger Wind wehte. So kalt war es in Santa Mondega nie zuvor gewesen. Und noch dazu wurde es einfach nicht hell, verdammt. Durch den Schnee und die brennenden Straßenlaternen sah es jedoch ausnahmsweise mal richtig weihnachtlich in der Stadt aus, was Sanchez zumindest ein wenig entschädigte. Nicht dass er ein besonderer Weihnachtsfan gewesen wäre. In der Adventszeit wurde man nur noch heftiger angebettelt, und überall warben Spendenorganisationen um Geld für Obdachlose, die jetzt offenbar schlimmer unter ihrer Situation litten als in den restlichen elf Monaten des Jahres. Es hatte ihn schon immer geärgert, dass diese Faulpelze in der Suppenküche umsonst durchgefüttert wurden, während er selbst dort nichts bekam.
Heute Morgen gab es offenbar Hühnersuppe im Asyl, jedenfalls roch die Brühe im Styroporbecher danach, aus der ein Penner an der Straßenecke trank. Der Mann war alt und trug zu seinem abgewetzten grünen Regenmantel zerrissene graue Hosen. Schuhe hatte er nicht, nur graue Socken mit Löchern darin, durch die seine Zehen herausragten. Sanchez blickte stur nach vorn und hoffte, dass er dem Schnorrer so unbehelligt entkommen konnte. Doch als er an dem Alten vorbeiging, hob der den Kopf.
»Haben Sie etwas Kleingeld, Detective?«, fragte er. »Für eine Tasse Kaffee?«
»Nein, leider nicht.«
Der Penner packte Sanchez’ Hose und zog daran, sodass er beinahe hingefallen wäre. Für einen Greis hatte er ganz schön Kraft. Sanchez versuchte, sich loszumachen, aber der Alte ließ sich nicht so einfach abschütteln.
»Hör mal, du Stinker«, schimpfte Sanchez. »Wenn du mich nicht loslässt, verhafte ich dich und verknacke dich wegen Wegelagerei!«
Der Obdachlose ignorierte diese Warnung. »Ich brauche unbedingt einen Kaffee. Hier draußen erfriere ich sonst noch. Sie wollen doch nicht, dass ein alter Mann ein Opfer der Kälte wird, oder?«
Sanchez seufzte und fischte in der Vordertasche seiner Hose nach Münzen. Davon hatte er dort eine ganze Menge, aber in der Tasche befanden sich auch sein Zippo-Feuerzeug und die zerknüllte Seite aus dem Buch des Todes . Sanchez vermutete stark, dass es mit dem Herausreißen allein nicht getan war und dass er die Seite komplett zerstören musste.
Die Augen des Alten begannen zu leuchten, und er ließ Sanchez’ Hose los. Mit dem Blick eines Welpen, der auf ein Leckerli wartet, schaute er zu Sanchez auf. Er holte zuerst das Zippo aus der Tasche, hielt es dem Obdachlosen vors Gesicht und brachte es zum Brennen. Eine beeindruckende Flamme erleuchtete die Dunkelheit. Der Alte wartete noch immer voller Hoffnung. Vielleicht dachte er, er würde das Feuerzeug geschenkt bekommen. Das war immerhin schon ein paar Dollar wert. Doch zu seiner Enttäuschung holte Sanchez nun die Seite aus dem Buch heraus. So gut es mit einer Hand ging, glättete er das Papier und passte auf, dass das Buch unter seinem Arm nicht herausrutschte. Der Obdachlose runzelte die Stirn und fragte sich wohl, was das alles sollte. Sanchez hielt eine Ecke der Seite in die Flamme, die sofort zu brennen begann.
»Hier.« Sanchez hielt dem Alten das brennende Stück Papier hin. »Damit kannst du dich warm halten.«
Der Obdachlose zog seine ausgestreckte Hand weg und prallte zurück.
»Was anderes habe ich nicht für dich«, sagte Sanchez und ließ die brennende Seite vor die Füße des Alten fallen. Der schaute erst beleidigt, ging dann aber in die Knie und versuchte, sich die knochigen weißen Hände an der Flamme zu wärmen.
»Geizhals«, murmelte er.
Sanchez grinste nur, klappte das Zippo zu und steckte es wieder ein. Dann ging er um die Ecke zu seinem Auto. Seine gute Tat für dieses Jahr hatte er damit erfolgreich abgehakt.
Plötzlich klatschte etwas Kaltes gegen seine Wange, und Wasser lief ihm in die Augen. Er hielt an, um sich das Gesicht abzuwischen. Jemand hatte einen Schneeball nach ihm geworfen. Er blickte in die Richtung, aus der das Geschoss gekommen war. Auf der anderen Straßenseite befand sich eine alte Dame in einem blauen Mantel und mit einem
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